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Auferstehung | September 2013

Begegnungen
von Monika Heil

Er versuchte, dreißig Jahre Leere während eines morgendlichen Spaziergangs mit Erinnerungen zu füllen. Die Straßennamen klangen vertraut, die Fassaden der Häuser schwiegen ihn beharrlich an.

Langsam schlenderte er durch eine Allee. Dort hatte sich ein Flohmarkt ausgebreitet, dessen Angebot zur Tristesse des Novembermorgens paßte. Nur wenige Besucher blieben an den schmalen Tischen stehen, die mit Nippes, abgegriffenen Büchern, kalk-blinden Gläsern und grauem Krims-Krams überladen waren.
Seine Blicke schweiften uninteressiert über die Angebote, als plötzlich ein Gegenstand seine Aufmerksamkeit einforderte. Abrupt blieb er stehen. Zögernd griff er nach einer grünen, achteckig geformten Tasse. Er hielt sie so vorsichtig in den Händen, als sei sie aus dünnem Glas. Langsam drehte er sie. Er starrte auf die netzartig gesprungene Lasur der Innenwand, als wolle er sich deren Muster unauslöschlich einprägen. Ihm schien es, als blicke er in einen Spiegel der Erinnerung.

In diesem Moment sah er sie wieder, ihre schmalen Hände, die feingliedrigen Finger, die diese Tasse oftmals gehalten hatten. Ihre schönen dunklen Augen, die von einem Kranz Lachfältchen umrahmt waren, strahlten ihn an. Er hörte ihr Lachen und blickte auf ihren rotgeschminkten Mund, den er mit Leidenschaft geküsst hatte.

Sie war Künstlerin, Pianistin. Er war Student im ersten Semester, ein paar Jahre jünger als sie. Damals war er begeisterungsfähig, lebensbejahend, fordernd.
Sie liebten sich einen langen kalten Winter lang in ihrer ungeheizten Mansardenwohnung. Zu Weihnachten hatte sie ihm eine handgearbeitete Keramiktasse geschenkt. Sie war achteckig geformt. Die tannengrüne Farbe schimmerte wie Seide. Doch sie war so schlecht gebrannt, dass die Innenlasur bald netzartig riß. Aus dieser Tasse tranken sie nur gemeinsam herb-süßen Kakao, dünnen Kaffee, schwachen Tee aus Aufgussbeuteln oder – wie an jenem Heiligen Abend – Glühwein. Nach der vierten Tasse hatten sie sich ´verlobt` und als Zeichen ihrer ewigen Verbundenheit ihre Initialen – N.H und E.N. auf den Becherboden geritzt. – Ringersatz.
Irgendwann war jener Winter Vergangenheit. Die nächsten Semester studierte er im Ausland. Später lebte er in Amerika.

Nur langsam kehrte er in die Gegenwart zurück. Vorsichtig drehte er die Tasse um. Das fahle Morgenlicht half ihm nicht, etwas zu erkennen. Er fuhr mit den Fingerspitzen über den glatten Boden. Er spürte die Ritzungen und sah sorgfältiger hin.
„N.H. und E.N.“, hörte er eine leise Stimme. Erst jetzt bemerkte er die schmale Silhouette einer jungen Frau hinter der provisorischen Verkaufstheke. Ihre schönen dunklen Augen, die von einem Kranz Lachfältchen umrahmt waren, blickten ihn aufmerksam an.
„Diese Tasse hat einmal meiner Mutter gehört. Es war ihre Verlobungstasse“, sagte sie mit klarer Stimme, an deren Ton er sich sofort erinnerte.
„Ich weiß“, murmelte er so leise, dass sie es fast nicht verstehen konnte.
Diese Tasse hat einmal mir gehört, setzte er stumm hinzu. Er schluckte und gab seiner Stimme Kraft.
„Ich glaube, ich kannte Ihre Mutter. Wohnt sie hier in der Stadt?“
„Nein, sie ist vor ein paar Monaten mit ihrem Mann in die Staaten gezogen. Dies hier ist sozusagen ihr Nachlass. Diese Scherben und ich.“ Eine flatternde Handbewegung begrenzte den engen Raum. Dann griff sie unter den Tisch und zog eine Thermoskanne hervor.
„Glühwein“, flüsterte sie. Ihr Tonfall hatte etwas Geheimnisvolles. Sie öffnete mit klammen Fingern den Verschluss. Dann goss sie die heiße rote Flüssigkeit in das grüne Gefäß. Sie setzte es an ihre Lippen und trank es zur Hälfte leer. Mit beiden Händen reichte sie ihm danach die Tasse. Er nahm sie behutsam entgegen und trank langsam in kleinen Schlucken.
„Grüßen sie Ihre Mutter von mir“, verabschiedete er sich. Sie fragte nicht, von wem.
Als er weiter ging, hielt er die Tasse noch immer in seinen Händen.

1. Version

Letzte Aktualisierung: 08.09.2013 - 10.24 Uhr
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