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Auferstehung | September 2013

Amerikanischer Albtraum
von Klaus Freise

Gouverneur Arthur Cromwell nahm verschlafen den Hörer ab. „Cromwell“, grunzte er.
„Hier spricht Direktor Mortough, Huntsville, Texas. Verzeihen Sie die Störung, Sir.“
Cromwell tastete nach dem Schalter seiner Nachtischlampe.
„Mortough, Sie schon wieder. Was gibt’s denn noch?“
„Nun Sir, es tut mir sehr leid Sie noch einmal zu belästigen, aber ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll, Sir. Es gibt da ein Problem, Gouverneur.“
Langsam richtete sich Cromwell im Bett auf. Schielte zum Wecker. Es war sechs Uhr in der Früh.
„Hören Sie, Mortough, vor zwei Stunden haben Sie mir gesagt, alles sei glattgegangen. Also, was für ein Problem könnte es da noch geben, verdammt?“
Der Direktor am anderen Ende seufzte: „Ja, also, Gouverneur - ich mache es kurz, Sir. Er lebt.“
Beide schwiegen für ein paar Sekunden. Cromwell setzte sich kerzengerade auf und presste den Hörer gegen sein Ohr. Die Knöchel seiner Hand traten weiß hervor. Er musste sich räuspern und krächzte die sinnlose Frage in den Hörer: „Wer?“ Er hörte, wie Mortough schluckte und sagte:
„Singelton, Sir. Er lebt.“
Cromwell spürte, wie sein Herz einen unkontrollierten Sprung in seiner Brust machte. Er bekam einen Kloß im Hals, als er fragte: „Großer Gott, Mortough, haben Sie getrunken?“
Dieser schrie fast sofort zurück: „Nein, nein! Es ist mein Ernst, Sir. Collin Singelton lebt noch, Sir.“
Auf Cromwells Stirn und Unterlippe bildeten sich Schweißperlen, seine linke Hand fühlte sich kalt an und begann zu kribbeln. Er hörte kaum noch zu, während Mortough mit hastigen Worten beschrieb, wie zwei Sekunden nach dem ersten Stromstoß das Netz zusammengebrochen war. Im Kopf des Gouverneurs drehte sich alles.
„Ein Stromausfall, sagen Sie?“, flüsterte Cromwell. „Hatten Sie mir nicht garantiert, dass so etwas nie passieren könnte? Dass Ihre Anstalt über eine eigene Versorgung verfügt, war das nicht so, Mortough, verdammt?“
„Also Sir, wie Sie ja wissen, stammen die technischen Anlagen noch aus den siebziger Jahren und ich erinnere auch nur ungern daran, dass Sie unseren Antrag für die Sanierung schon Anfang des Jahres abgelehnt hatten.“
Der Gouverneur bekam einen so heftigen Hustenanfall, dass er fast den Hörer fallen ließ.
Verstohlen spähte er über die Schulter zu seiner Frau Dorothea. Sie schlief. Seit Arthur an den Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur der Republikaner teilnahm, hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht eine Schlaftablette zu nehmen.
Mühsam richtete Cromwell sich auf, während Mortough fortfuhr:
„…Sie können sich sicher vorstellen, was für ein Schock es für meinen Mitarbeiter war, als Singelton im Leichenraum plötzlich die Hand bewegt hat …“
„Mortough“, keuchte Cromwell in den Hörer.
„… der arme Kerl, er ist auch schon über sechzig, Sir, hätte fast einen Herzinfarkt bekommen.“
„Mortough, verdammt“, brüllte Cromwell, obwohl kleine Lichtblitze vor seinen Augen tanzten.
„Äh, ja Sir?“
In leisem, verschwörerischen Tonfall fragte Cromwell: „Wer weiß alles davon?“
Nach kurzer Pause antwortete der Direktor fast genauso leise: „Nun also, außer mir, nur zwei Bedienstete, der Arzt und Sie natürlich, Sir.“
Als Cromwell hinter sich ein leises Stöhnen hörte, flüsterte er: „Jetzt passen Sie mal gut auf, Direktor Mortough aus Huntsville. Ich habe sein Gnadengesuch vor zehn Stunden abgelehnt …“
„Ja, Sir“, unterbrach ihn der Direktor. „Davon sind wir hier auch ausgegangen, Sir. Ich bin sicher und Gott ist Ihr Zeuge, Sir, dass Sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben.“
„Jetzt halten Sie endlich die Klappe und hören mir zu“, Cromwell hatte sich etwas zusammengekrümmt, um die Schmerzen in seiner Brust zu lindern.
„Können Sie sich vorstellen, was die Medien mit uns machen, wenn das herauskommt, Direktor? Mit Ihnen und Ihrem Gefängnis. Mit mir und meinen Bemühungen, in diesem Land für Gerechtigkeit zu sorgen? Ich will, dass Sie das sofort beenden, Mortough, und zwar sofort. Haben Sie mich verstanden?“
Während Cromwell versuchte, neue Kraft zu tanken, stammelte der Direktor:
„Aber Sir, wie soll ich das denn anstellen, ich kann ihn doch nicht noch einmal … er hat das Urteil doch überlebt … laut Gesetz darf niemand für ein Verbrechen zweimal …“
„Mann, Mortough, jetzt reißen Sie sich mal zusammen“, keuchte Cromwell. „Der Mann war doch schon tot. Bringen Sie das jetzt zu Ende, unser beider Zukunft steht hier auf dem Spiel. Oder wollen Sie, dass Millionen Amerikaner ihren Glauben an die Gerechtigkeit ausgerechnet hier in Texas verlieren?“
„Großer Gott, nein Sir, natürlich nicht.“
Cromwell hörte wieder ein Geräusch hinter sich und sah sich um. Hätte er noch die Kraft gehabt, hätte er jetzt aufgeschrien. Seine Frau saß mit weit aufgerissenen Augen im Bett.
„Um Gottes willen, Arthur, was tust du denn?“ Bei dem Anblick ihres Mannes schlug sie die Hand vor den Mund. Arthur saß mit wachsbleichem, schweißüberströmten Gesicht auf der Bettkante und atmete schwer.
„Meine Pillen“, krächzte er. Dann ließ Arthur Cromwell, Gouverneur von Texas, den Hörer fallen und sackte zusammen.
Am nächsten Morgen fand Präsident Robert Harrington wie üblich auf seinem polierten Mahagonischreibtisch eine Auswahl der neusten Tageszeitungen. Eine Schlagzeile sprang ihm sofort ins Auge:
"Todeskandidat Collin Singelton lebt. Präsidentschaftskandidat Arthur Cromwell tot."
Harrington ließ sich in seinen Sessel sinken und seufzte:
"Mein Gott, was für ein Albtraum."


Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.09.2013 - 19.45 Uhr
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