Diese Seite jetzt drucken!

Auferstehung | September 2013

Der Ruf des Käuzchens
von Martina Lange

Staubpartikel schwebten durch die Luft und legten sich nieder. Nicht dort, wo sie zuvor gelegen hatten, denn ihre Ruhe war gestört worden. Ob Regale, Schränke oder Schubladen, alle standen an die Wände gepresst und starrten vor sich hin. Erschüttert und entblößt.
Armin-Alexander trug dafür die Verantwortung. Nun, nachdem er sein Werk vollbracht hatte, hockte er inmitten des Chaos und musterte seine Hände. Hände, die ihr Alter nicht verbergen konnten, die sich auflösten vor seinen Augen und nicht zu greifen vermochten, was mit ihnen geschah. Flecken bedeckten die Handrücken. Waren die gestern auch schon dort? Er spreizte die Finger. Die Gelenke verweigerten sich und blieben, wie sie waren. Die Gicht bestimmte über sie.

Wieder schlug er nach den Büchern, den Bildern, den Zeitungsausschnitten, den Souvenirs und all seiner Vergangenheit um ihn herum. Er sah sie nur durch seine Brillengläser. Und verfehlte sie.
Wie er die Stunden und Tage verfehlt hatte, die Jahre. So war sein Leben und was blieb, waren Papier und Staub. Daran gab es nichts zu rütteln.
Armin hatte gerüttelt und getobt, aber nichts brachte ihm seine Frau zurück.
Er rief nach ihr, verwünschte sie und drohte ihr aus Leibeskräften.
Doch wenn er lauschte, antwortete ihm nur Stille.
War das die Ruhe nach dem Sturm, von dem nur ein Berg aus Brennmaterial übrig geblieben war?

* * *

Die Nacht schwirrte vom Zirpen der Grillen. Noch nutzten sie die Wärme für ihren Gesang, bald schon würde die Kälte sie verstummen lassen. Kälte! Er verabscheute sie. Sie zog in die Knochen und lähmte die Glieder. Früher war das nicht so gewesen. Da hatte er die Winter geliebt. Die Anmut der Strukturen. Bäume in Kristall gehüllt. Oh ja, und diese Klarheit.
Heute musste er davon husten.
Armin-Alexander Achat schob seine Füße in die Puschen. Sie reichten ihm bis über die Knöchel. Durch die Löcher im Karostoff lugte das Fellfutter und der Reißverschluss klemmte, aber sie wärmten seine Füße noch immer. Armin schnaubte, wieder hatte er vergessen das Zeitungspapier herauszunehmen. Er beugte sich hinunter und begann die Papierstücke herauszupulen. Die Feuchtigkeit war aus dem Puschen in das Papier gezogen. Seine Finger, die ihre Geschicklichkeit im Laufe der Jahre eingebüßt hatten, beförderten lediglich Fetzen heraus. Grimmig schüttelte er sie ab.
"Ach, so ein Quatsch." Er drehte den Schuh um und klopfte auf die Sohle. Als der Erfolg ausblieb, schlug Armin ihn auf die Bettkante und warf das Ding schließlich voller Ärger zu Boden. Warum, zum Kuckuck, sollte er sich überhaupt aus dem Bett begeben? Obwohl noch ein Hauch vom Sommer in der Luft lag, fröstelte er. Er war alt und er fand das schrecklich! Seine Frau hätte etwas an seinem Jammer ändern können, sie war seine Erneuerung. Aber sie war fort.
Der Klang ihrer Stimme war in seiner Erinnerung geblieben.
"Armin-Alexander, heb deinen Hintern aus dem Bett und schalte den Generator ein!" Armin ließ sich zwischen die Kissen sinken und zog sich die Decke über die Ohren. 'Armin-Alexander': welcher Wahnsinn hatte seine Eltern dazu getrieben, ihm diesen Doppelnamen zu geben. Ein einziger Name mit Altertumswert hätte auch gereicht, aber nein, es mussten gleich zwei davon sein. Er hatte sie immer wieder ändern wollen und es dann doch gelassen. Irgendwann hatte er einfach nicht mehr hingehört. Nun sagte niemand mehr seinen Namen. Armin ertappte sich dabei, dass er sich wünschte, jemand, ganz gleich wer, würde genau dies noch einmal tun.

Aus dem Apfelbaum im Garten unter seinem Fenster ertönte der Ruf eines Käuzchens.
Sein Vater hatte den Baum gepflanzt, damals, als Armin geboren wurde. Vor Jahrzehnten. Nun erging es dem Baum genauso wie Armin. Die Zeit nagte an beiden und biss Stücke aus ihnen heraus.
In eine dieser Baumhöhlen war die Eule eingezogen. Nachts glitt sie an seinem Fenster vorüber. Ihre Flügel verursachten keinen Laut, dafür zog ihre Stimme sein Sonnengeflecht zusammen. Mit ihr kehrten die Erzählungen seiner Großmutter wie Schatten aus der Vergangenheit zurück.
"Wenn das Käuzchen ruft, dann holt es sich eine Seele", hatte sie erklärt und ihr Blick verweilte danach in den Obstbäumen ringsum, ganz so, als suche sie nach ihrem eigenen Rufer.
Sie entschlief an einem Nachmittag, während sie draußen in der Sonne saß. Von diesem Tag an hatte Armin nicht mehr an den Eulenspuk geglaubt. Nun war die Eule da, seine Frau war fort, und er begann sich zu erinnern.

Erinnern - Genau das hatte seine Marie ihm zum Vorwurf gemacht. Er sah all seine Freunde durch die Straßen und Gassen ziehen. Hörte ihr Gelächter verhallen. Sah ihre Gesichter, die nichts waren als Gespenster, Schatten und Erinnerungen. In einem Dorf, das keines mehr war.
Und er begann zu reden, wie er es früher schon immer getan hatte, in den Nächten, wenn Marie bereits schlief und er wieder einmal viel zu spät von der Arbeit heimgekommen war.
Während er ihr Gesicht betrachtet hatte, das auf den Kissen ruhte, beschrieb er, wen oder was er sah, roch und hörte. Wer im Garten ein und aus ging oder flog. Die Erlebnisse seines Tages.

Und schließlich wischte er sich die Wangen, sah zum Himmel, der seine Farbe veränderte, sah die Sonne aufgehen und einen jener Tage beginnen, die ohne Ende zu sein schienen und an denen niemand mit ihm sprach.
Armin warf die Decke beiseite. Schluss! Jetzt würde er Schluss machen, endgültig!
Alle anderen waren schon fort. Er wusste, dass nur sein Stolz ihn in diese Einsamkeit getrieben hatte. Dass sein Dickkopf ihn dort hielt, wo kein Leben mehr war. Und nun war er genauso gestorben wie der Rest des Dorfes. Auf was sollte er noch warten?
Das Käuzchen rief ihn. "Komm mit, komm mit!", tönte es aus dem Apfelbaum.
Er musste ihm folgen, jetzt. Wenn erst der Baum fiel, dann würde die Eule gehen, ob nun mit oder ohne ihn. Das Letztere wollte er auf gar keinen Fall riskieren. Armin lauschte, stand auf und ließ seine Puschen stehen.

* * *


Ein Taxi fuhr auf den Hof. Dem Fahrer stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben, als er ausstieg. Armin öffnete die Haustür und wuchtete seine Tasche hindurch.
"Tach, war nicht leicht, Sie zu finden, mein Navi wollte mich immer wieder zum Umkehren drängen. Ich hatte nicht vermutet, dass hier noch jemand lebt." Mit einer Armbewegung umfasste der Mann mehr als nur die Hofeinfahrt, er schloss das Dorf damit ein. Armin zog die Haustür zu und folgte dem Taxifahrer.
"Tut es auch nicht." Und sein Herz klopfte in Erwartung auf das Wiedersehen mit Marie.

Letzte Aktualisierung: 19.09.2013 - 09.04 Uhr
Dieser Text enthält 6508 Zeichen.


www.schreib-lust.de