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Auferstehung | September 2013

Die Rückkehr des Hirschkönigs
von Birgit Haase

Sie schaltet das Autoradio aus und nimmt den Fuß vom Gas. Seit dem frühen Morgen hat dichter Nebel die Außenwelt in Watte gehüllt, aber als ihr alter Mini schnaufend die Kuppe eines Hügels überwindet, teilt sich die Nebelwand.

Langsam bringt sie den Wagen zum Stehen und greift nach dem Fotoapparat.

Am Fuß des Hügels erstreckt sich in satten Frühlingsgrüntönen ein ausgedehnter Mischwald. Auf einer Lichtung kann sie ein Rudel Rotwild ausmachen, das friedlich in der Morgensonne äst. Die Schotterstraße wird von saftigen Wiesen gesäumt. Links führt ein schmaler Pfad zu einer Anhäufung von Steinen, von denen drei übereinandergetürmt ein Tor bilden.

“Granny hätte mir garantiert erklären können, was es mit diesen Steinen auf sich hat“, erinnert sie sich an ihre kürzlich verstorbene Großmutter.

Neugierig beschreitet Vivian den Trampelpfad, der zu der Steinformation führt. Sie schießt eine Serie von Fotos, denn schließlich dient die Reise einer Bildreportage über vorchristliche Kultstätten. Sie hat diesen Auftrag nicht zuletzt deshalb angenommen, um ihrer Großmutter eine letzte Ehre zu erweisen. Sie war eine Expertin auf diesem Gebiet gewesen und hatte ihrer Enkelin ein Testament hinterlassen, dessen Rätsel Vivian bislang nicht hatte lösen können.

„Wenn du diese Zeilen liest“, hiess es in dem Dokument „wird zwar mein irdisches Leben, nicht aber meine Aufgabe beendet sein. Mein Vermächtnis an dich wirst du dort finden, wo der Gehörnte mit den Hirschen läuft. Die Mondsichel wird dir den Weg weisen.”

Mit diesen Zeilen hatte der Notar Vivian ein feingeschmiedetes Goldkettchen mit einem blauen mondsichelförmigen Anhänger überreicht, das sie seit dem stets um den Hals trägt.

Stimmen dringen an Vivians Ohr, die mit jedem Schritt lauter werden. Zögernd bleibt sie am Eingang stehen und blickt zu dem Torbogen auf. Zu ihrer Überraschung ist in den querliegenden Stein eine überdimensionale Mondsichel gemeißelt, die in Form und Farbe mit dem Kettenanhänger identisch ist, den ihre Großmutter ihr als Wegweiser hinterlassen hat.

“Tritt ein, Tochter! Wir haben Dich seit langem erwartet.”

In der Mitte des Steinkreises bleibt Vivian stehen. Niemand ist zu erkennen, der das Wort an sie gerichtet haben könnte. Stattdessen entdeckt sie, dass die Steinoberflächen bemalt sind. In regelmässigen Abständen taucht immer wieder das Symbol der Mondsichel auf.

Neugierig tritt Vivian näher an eine der Steinwände heran. Nun, da sie Einzelheiten der verwitterten Malereien erkennen kann, stellt sie fest, dass das Mondsichelzeichen stets mit der Darstellung einer Frauengestalt einhergeht.

Je länger sie die Wandmalerei betrachtet, desto öfter scheint es ihr, als trüge die Mondsichelfrau die Gesichtszüge ihrer Großmutter, als diese jung war.

“Ja”, hört sie erneut die Stimme, die bereits zu ihr gesprochen hat. “Es ist eine Darstellung deiner Großmutter, unserer Priesterin, aber auch das Abbild jeder Nachfahrin des Feenvolkes, die den Glauben an die Göttin nicht verloren hat. Und nicht zuletzt ist es ein Abbild deiner selbst, meine Tochter, die du hierher gefunden hast, um dein Erbe anzutreten.”

“Wer seid Ihr?” fragt Vivian in den leeren Steinkreis und verwendet intuitiv diese ehrfürchtige Anrede.

“Ich bin all jene, die du dort abgebildet siehst. Einerseits bin ich deine Großmutter, ein Teil von mir verkündet die Botschaft des Feenvolkes, und ein weiterer Teil spricht aus dir selbst heraus zu dir.”

“Warum bin ich hier?”

“Um der Göttin zu dienen und um die Traditionen des Feenvolkes zu wahren.”

“Aber diese Riten und Traditionen haben doch seit langem keinen Einfluss mehr auf die Menschen”, widerspricht Vivian.

Die Stimme lacht leise. “Noch immer werden die alten Kulte praktiziert, auch wenn es nicht für jeden offensichtlich ist. Was sind denn die Johannisfeuer an Mittsommer anderes, als die traditionellen Feuer, die vor Jahrhunderten an Beltane entzündet wurden? Und auch wenn Mann und Frau nicht mehr wie damals an diesem Fest beisammen liegen, so fassen sie sich zumindest bei den Händen und durchspringen die Feuer, die zu Ehren der Göttin entfacht werden. Die Riten haben sich nur verändert, dienen aber noch immer dem Zweck, der Göttin zu huldigen. Du bist dazu ausersehen, nach den alten Regeln die Priesterinnenweihe zu empfangen, um als oberste Hüterin die Traditionen zu wahren und weiterzugeben, so wie es deine Großmutter tat. Nur so kann der immerwährende Kreis geschlossen und wieder geöffnet werden. Nur so kann das göttliche Gleichgewicht beibehalten werden und immer wieder auferstehen.“

“Bist du bereit?” fragt die Stimme, woraufhin Vivian wie in Trance nickt Gleich darauf spürt sie, wie sie von Geisterhand in einen Umhang gehüllt wird, der die magischen Zeichen des Feenvolkes trägt. “Die Mondsichel wird dir den Weg weisen, meine Tochter.”

Vivian löst die Kette, die sie um den Hals trägt, und legt sie sich aufs Haar, sodass die blaue Mondsichel ihre Stirn berührt. Sie schließt die Augen und sieht sich außerhalb des Steinringes an einem Abhang stehen und in das dichtbewaldete Tal blicken, wo sie ein Rudel Hirsche vorbeiziehen sieht. Der Anführer des Rudels ist von majestätischer Gestalt. Unermüdlich wacht er über seine friedlich grasende Herde, stolz schüttelt er von Zeit zu Zeit sein prächtiges Geweih und immer wieder hält er seine Nüstern prüfend in den Wind.

Vivian bemerkt einen in Hirschfelle gewandeten jungen Mann, der sich vor ihr nieder kniet, das Geweih senkt, das ihm an der Stirn befestigt ist, und stumm um ihren Segen bittet.

Als hätten die magischen Worte, mit denen über Jahrhunderte hinweg jede Priesterin den Hirschkönig segnete, schon seit Anbeginn aller Zeiten in ihr geschlummert, spricht sie mit erhabener Stimme:

“Die Kraft des Winters ist gebrochen, das neue Leben des Frühlings soll dich begleiten und dir den Sieg bringen. Triumphiere über das prachtvollste Geschöpf auf Erden, auf dass du zum neuen Hirschkönig gekrönt werdest.”

Wortlos erhebt sich der Gehörnte und läuft leichtfüßig den Abhang hinab, um sich seinem Gegner im fairen Kampf zu stellen. Mit geschmeidigen Bewegungen nähert sich der Prüfling seinem Gegner, der ihn bereits mit nervösem Stampfen der Vorderhufe auf der Lichtung erwartet. Die übrigen Mitglieder des Rudels haben sich im Kreis gruppiert, wobei die Hirschkühe ihre Kälber aufgeregt zu schützen versuchen. Als der Königshirsch seines Rivalen ansichtig wird, senkt er sein Geweih und stürmt ihm mit einem imposanten Röhren entgegen. Der Gehörnte jedoch lässt sich von dessen Imponiergehabe nicht beeindrucken. Er springt ihm entgegen, auch er senkt sein Haupt, und das Aufeinanderprallen der beiden Geweihe tönt schaurig durch den Wald. Die mächtigen Hörner verkeilen sich, wütendes Schnauben begleitet das Schütteln der königlichen Häupter in dem Bestreben, den Gegner zu Boden zu werfen.

Plötzlich spürt Vivian, wie sich ihre Aura mit der einer wunderschönen Hirschkuh verbindet, die die Gefährtin des Königshirsches zu sein scheint.

“Seit jeher wird dieser Kampf auf Leben und Tod ausgetragen”, lautet deren stumme Botschaft. “Ich aber bin sicher, dass die Große Mutter lediglich einen Sieg, nicht aber Blutvergießen fordert. Wenn es mir durch eine List gelingt, dass dein Gefährte den Sieg davonträgt, wirst du dann dafür sorgen, dass das Leben meines Gefährten verschont wird?”

“Du hast mein Wort ”, antwortet Vivian in der Sprache der Gedanken. „Auch mir liegt nichts an sinnlosem Blutvergießen.”

Im selben Moment, als sich die Auren der beiden voneinander lösen, vernimmt Vivian ein angsterfülltes Röhren der Hirschkuh. Für einen Bruchteil von Sekunden wendet der Königshirsch seine Aufmerksamkeit der Gefährtin zu. Dieser Augenblick genügt, um dem Gehörnten den Vorteil zu verschaffen, den er benötigt, um mit einem kraftvollen Stoss seines Geweihs den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Königshirsch schwankt und sinkt zu Boden. Mit einer raschen Bewegung zieht der Sieger das Messer aus der Scheide, um dem Rivalen den Todesstoß zu versetzen, als er ein gebieterisches “Halt ein!” vernimmt. Verwirrt blickt er zur Priesterin hinüber.

“Du trägst durch diesen Sieg nun den rechtmäßigen Titel des Hirschkönigs. Ein König aber hat die Wahl, dem Gegner, der in fairem Kampf unterlegen ist, das Leben zu schenken. Eine königliche Geste, die deinen Machtanspruch festigen wird.”

Nach kurzem Zögern verstaut der neue König das Messer, und majestätisch bedeutet er dem Besiegten, dass er freies Geleit habe.


Leicht erschreckt blickt Viviane um sich und schaut in die kristallblauen Augen eines Mannes.

“Haben Sie etwas gesagt?” fragt sie ihn, woraufhin er leise auflacht. “Ich habe Sie jetzt schon zum dritten Mal gefragt, was Sie an diesen Steinwänden so fasziniert, dass sie sie derart intensiv betrachten.”

“Verzeihen Sie. Ich war in Gedanken und ich habe mich gefragt, welche Bedeutung diesen Malereien in früheren Zeiten zukam.”

“Oh, vielleicht kann ich Ihnen da ein wenig weiterhelfen. Gestatten, dass ich mich vorstelle? Arthur Pendragon von der Universität Cardiff. Ich stelle Ihnen mein bescheidenes Wissen über vorchristliche Riten gerne zur Verfügung.”

“Angenehm, mein Name ist Vivian Avalon, freiberufliche Fotografin.” Sie ergreift die ihr zur Begrüßung entgegengestreckte Hand. Wie ein Blitz durchfährt sie diese Berührung. Vergeblich sucht sie in ihren Erinnerungen nach einer Begebenheit, die sie schon einmal mit dieser seltsam vertrauten Hand in Berührung hat kommen lassen.

“Ihr großzügiges Angebot wird ihnen schon in Kürze leid tun”, teilt sie ihm lächelnd mit. “Aber als Entschädigung lade ich sie zum Mittagessen in dem entzückenden Landgasthaus ein, an dem ich vorhin vorbeigekommen bin.”

“Eine angemessene Entlohnung”, erwidert Arthur. Auch er spürt nun das magnetische Spannungsfeld, das sich zwischen ihnen aufzubauen beginnt, und einen Augenblick lang glaubt er, eine blaue Mondsichel auf ihrer Stirn zu entdecken. „Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich einen Hunger, als hätte ich heute schon gegen einen Bären kämpfen müssen”, behauptet er belustigt.

Letzte Aktualisierung: 06.09.2013 - 20.31 Uhr
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