Mainhattan Moments
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Rausch | Oktober 2013
Zweitstimme
von Anne Zeisig

“Toooooor! Tooooooor! Die Kicker der RPD haben es geschafft, in der 89. Spielminute ein Unentschieden herbeizuführen!”
Der Radioreporter Hendrik Schulte öffnet eine Flasche Pils und trinkt sie in einem Schluck aus.
“Das hat gezischt”, flüstert er und wischt sich mit dem Handrücken den Schaum aus seinem Schnäuzer.

Die Arena erzittert unter den Gesängen der taumelnden Masse.
“To-hor famos! Flaschen ho-hoch!”
“Sieg den Blauen! Pro-ho-host!”
“Zieht den Absti-nent-lern die Unter-hosen aus, die Unter-hosen aus!”
Begleitet wird die Gesangseinlage von einem Trommelfeuerwerk.

Die gegnerischen Anhänger der NOALK kontern stimmengewaltig.
“Die RPDler wer-den aus-ge-lacht, weil der Rausch sie süch-tig macht!
Blau als Far-be ist o-kay, blau als Zu-stand tut nur weh!
Ha-zwei-ohhh ist in und cool so-wie-so!”
Auf ihrer Nordtribüne hat sich hinter dem Werbebanner der ‘Stillen Quelle’ ein Mädchenchor aufgebaut und singt zart sopranös:
“Das Was-ser von Kölle is juuuuut!”
Bevor sie ihre Blockflöten erklingen lassen können, schallen ihnen harte Buh-Rufe aus der Südtribüne entgegen.

Hendrik räuspert sich und spricht ins Mikro.
“Kann es sein, dass sich auf den Tribünen ein Konflikt andeutet? Die Anhänger der NOALK schwenken eine Flagge mit weißem Hintergrund und blauem Kreuz darauf. Das riecht nach Provokation! Ich berichte Konkretes nach einem Wahlwerbespot der RPD.
Wir weisen darauf hin, dass die Parteien für den Inhalt ihrer Bierflaschen, äh, selber verantwortlich sind.”
Er leert die zweite Flasche.

“Ihre Zweitstimme für unseren Spitzenkanditaten Rausch!
Rauschende Gelage statt Depression und Burn-Out.
Starkbierfrühstück statt wässriger Armenspeisungen!
Freibier für Deutschland statt Ouzo für Griechenland!
Rausch: Bürgernah! Lebenslustig! Konsumfreundlich!
Überlassen wir nicht länger das Spielfeld den nüchternen Akteuren und Wasserträgern.
Rausch für Deutschland! Für eine starke Wirtschaft!
RPD: Rausch-Partei-Deutschland!”

Der Radiosprecher wischt sich den Schweiß von der Stirn.
“Die Eskalation im Stadion spitzt sich zu! Ein Team aufstrebender Polizeibeamten hat soeben die Nordtribüne geentert, um den Provokateuren der NOALK die Flagge des ‘Blauen Kreuzes’ unter Einsatz von Wasserwerfern zu entreißen!” Seine Lippen zittern, weil er das Wort Wasserwerfer nur stotternd hervorgebracht hat.
“Vor meinen Augen spielen sich entsetzliche Szenen ab! Die Mannen der RPD stürmen den Rasen und laufen zur Nordtribüne! Ich kann kaum glauben, was ich da sehe! Sie köpfen unzählige Bierflaschen und gießen den Inhalt über die Zuschauerköpfe der NOALK`s!
Wir bleiben dran!
Vorab wegen der Ausgewogenheit ein Wahlwerbespot der NOALK.
Wir müssen darauf hinweisen, dass diese Partei für ihren verwässerten Inhalt selber verantwortlich ist!”

“Stark für ein alkoholfreies Deutschland!
Flaschen haben uns lange genug regiert!
Zurück zu den Ursprüngen: Den Quell des Lebens!
Kristallklare, frische Gedanken abhörfrei!
Nüchterne Tatsachen zählen!
Und Steuersprudelnde Ideen!
Ihre Stimme für die NOALK.
NO-ALKOHOL.
Für Dich. Für mich. Für uns.”

“Ich melde mich zurück”, nuschelt Hendrik Schulte verwaschen und gönnt sich einen Magenbitter.
“Inzwischen haben die Polizeibeamten die Fahne des Anstoßes aus dem Stadion entfernt und einige Südtribünler in Gewahrsam genommen! Die Regie teilt mir gerade mit, dass unsere Kanzlerin sich zu den Vorfällen äußern will.”
Er greift mit flatternden Fingern zur dritten Flasche, leert sie und lehnt sich tief atmend zurück.

“Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sportsfreunde und Freundinnen, Wählerinnen und Wähler!
Ich habe lange überlegt, welche Farbe mein Sakko haben soll. Und dass es nun Blau ist, mag Zufall sein, weil mein Mann die anderen noch nicht aus der Reinigung abgeholt hat.
Niemand will Ihnen das entspannende, wohldosierte Feierabendbier missgönnen, gehört doch auch das zu unserer Kultur und dem Reinheitsgebot. Nicht vergessen wollen wir aber auch die unzähligen armen emsigen Winzer und Winzerinnen der sonnenverwöhnten Reben Griechenlands, deren süßer Nektar auch unseren Gaumen erfreut, weil wir damit Toleranz zelebrieren, denn wir alle sind Mitglieder und Mitgliederinnen der Europäischen Union.
Bei all der Individualität und dem allseits so hochgelobten multikulturellen Gedankengut, so eint uns doch die Trinkkultur: Export und Import. Berliner Weiße und Schwarzbier. Und. Ja. Auch ein Kölsch durfte ich bereits genießen, aber ebenso mundete mir das frische Wasser aus unserer herrlichen Domstadt, wie auch das heimische aus der Uckermark.
Ein jedes Getränk am passenden Ort und zu seiner Zeit.
Deshalb dürfen wir auch nicht jene aus unseren Reihen ausschließen, welche an unalkoholischen Getränken Geschmack finden und das auch öffentlich kundtun per Banner, Fahnen oder Flaggen.
Zwar erscheint es mir befremdlich, wenn der reine Gerstensaft über Häupter gegossen wird, welche dem Wasser zugetan sind, aber ich kann nachvollziehen, wie wichtig derartige Rituale sind.”
Frau Doktor A. Merkel rückt ihre Kette zurecht. “Ich hoffe auf einen fairen Wahlkampf! Möge der Beste siegen!”
Die Masse jubelt, die Masse buht, die Trommeln übertönen die Blockflöten.

Hendrik lallt ins Mikrophon. “Un-sa all-ler Ängschiiie-giiiiieee trägt, laut Reschiiii, eine Bern, äh, Bernschtein-Kedde, Kette. Schööön braun isch, is sie, die Kedde.”
Dann fällt er zu Boden.
“Die Masse im Stadion tobt!”, ruft Hendriks Kollegin eilig in den Äther. “Unser Polizeipräsident will sich auch noch zu den Vorkommnissen äußern.”

“Liebe, rechtschaffende Mitbürger und Freunde des runden Leders!
Wenn es so ist, dass unser aller Kanzlerin die menschenverachtenden Rituale der RPD toleriert, da lehne ich es zukünftig ab, meine Männer weiterhin in den Wahlkampf, äh, in ein Stadion, zu schicken, einzusetzen, um dort für Ordnung zu sorgen! Da bin ich eigen! Nicht mit mir! Nicht mit uns! Nicht mit uns allen! Danke!”

“Ich gebe nun ab zu den Kollegen des ‘Internationalen Frühschoppens’, welche sicherlich über den beleidigten Staatsbeamten eine rege Diskussion führen werden.”
Sie nimmt den Kopfhörer ab und steigt über Hendrik hinweg. “Gieß doch mal einer ‘nen Eimer Wasser drüber, damit er wieder zu sich kommt.”
“Wasser?”, kommt die Frage aus der Regie, “wo sollen wir das denn so schnell herbeischaffen?”
“Und ich dachte immer, die Öffentlich-Rechtlichen seien neutral.” Sie schüttelt ihre blonde Mähne.

anne zeisig, EINS



Letzte Aktualisierung: 07.10.2013 - 20.13 Uhr
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