Rausch | Oktober 2013
| Bergwandern, muss das sein? | von Ingeborg Restat
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In die Berge fuhr Niklas ja im Urlaub, aber nur seiner Frau Marianne zuliebe. Er hasste es, Bergstiefel anzuziehen und einen Rucksack zu tragen. Gipfel erstieg er grundsätzlich nur, wenn sie fast schon mit dem Auto zu erreichen waren, und Bergwanderungen durften nie länger dauern als eine Stunde hin und eine Stunde zurück.
Als Marianne aber eines Tages nach dem Frühstück unbedingt zur Moseralm am Gipfel des Jochkopfes hochwollte, gab er ihren Bitten zuletzt doch nach, obgleich kein fahrbarer Weg auch nur in die Nähe der Alm führte. Allerdings hatte er sich vorher versichern lassen, dass sie bis dahin auf gar keinen Fall länger als anderthalb Stunden brauchen würden.
Albern fand er es dann, dass Marianne dazu ihren Rucksack packte und sogar noch ihre Regensachen mit hineinsteckte – an diesem sonnigen Tag!
Er ließ es sich aber nicht nehmen, mit dem Auto wenigstens bis zu dem Wald zu fahren, durch den der Aufstieg begann. Seufzend schlug er dort die Autotüren zu, nahm ergeben den in seinen Augen unnützen Rucksack, und los ging es den Weg hinan. Lautlos blieben ihre Schritte auf dem Waldboden. Nur kleine Äste knackten unter ihren Füßen. Es duftete nach Moos, nach Tannengrün und Pilzen. Vögel huschten durch die Zweige der Bäume und die Geräusche des Tales verklangen mehr und mehr, je höher sie kamen, er voran und sie hinterher.
Doch als sie unter den letzten Bäumen auf eine üppig blühende Almwiese heraustraten, trug längst Marianne den Rucksack. Mit gleichmäßigem Bergschritt ging sie weiter den sich schlängelnden Pfad zur Alm hoch. Keuchend auf einen Ast gestützt, den er im Wald aufgenommen hatte, folgte ihr Niklas.
„Anderthalb Stunden, hä? Jetzt sind es schon fast zwei …“, meckerte er, blieb stehen, schob den Schirm seiner durchschwitzten Baseball-Mütze hoch, wischte sich über die Stirn und schaute sehnsüchtig zur weiter oben liegenden Alm. „Hab ich einen Durst! Ob es da ein Helles gibt?“
„Wie kannst du jetzt an Bier denken? Nimm einen Schluck aus unserer Wasserflasche“, sagte Marianne, nahm den Rucksack ab, holte die Flasche heraus und gab sie ihm.
Gierig trank er daraus.
Sie nahm auch einen Schluck, steckte die Flasche zurück und wies ringsherum auf die Berge und das Tal. „Schau nur, wie hoch wir schon sind, wie weit wir sehen können und wie klein alles da unten im Tal wirkt.“
„Mir wäre lieber, ich läge jetzt da unten auf einer Wiese“, knurrte er.
„Du wieder!“ Sie schüttelte verständnislos ihren Kopf, nahm den Rucksack auf und ging weiter.
„Na und?!“ Er lächelte ihr hinterher, zog den Schirm seiner Mütze wieder tiefer und folgte ihr.
Hoch oben über ihnen auf dem Jochkopf leuchtete das Gipfelkreuz im Sonnenschein. Darüber kreisten Dohlen unter weißen Wolken am blauen Himmel. Leise drangen ihre Schreie bis zu ihnen herunter. Einen kleinen Bach, dessen Wasser über Fels, Sand und Wurzeln seinen Weg ins Tal hinunterplätscherte, überquerten sie. An weidenden Kühen mit glänzend braunem Fell und Glocken um den Hals, die neugierig zu ihnen schauten, kamen sie vorüber. Der melodische Klang ihrer Glocken begleitete sie bis zur Alm hoch.
Niklas ließ sich auf die Bank vor der Almhütte fallen und streckte seine schmerzenden Beine weit von sich. Er bekam hier sogar sein helles Bier, während Marianne ein Glas frische Buttermilch trank und dazu von der Sennerin selbst gemachten Käse aß.
Er genoss es, endlich eine Weile in Ruhe sitzen zu können. Sie aber konnte sich nicht satt sehen an der weiten Sicht zu den imposanten Bergen ringsum. Nur das leise Geläut der Glocken von den Kühen weiter unten und die noch fern klingenden Schreie der Dohlen oben am Gipfel waren zu hören. Sonst Stille. Kein Laut drang aus dem Tal herauf.
„Es hat sich gelohnt, hierherzukommen“, meinte Marianne.
„Hm!“, grunzte Niklas und hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen.
Als er nach einer Weile zum Aufbruch drängte, warf Marianne noch einen Blick zum Gipfelkreuz hoch. Wann würde sie dem jemals wieder so nahe kommen? Ob sie … ? Ohne weiter nachzudenken, fragte sie die Sennerin: „Wie lange braucht man noch bis zum Kreuz hoch?“
„A halb Stund“, lautete die Auskunft.
„Du willst doch nicht etwa …? Ohne mich!“ Niklas konnte gar nicht schnell genug den Rucksack aufnehmen und zum Weg ins Tal gehen.
„Niklas, bitte!“
Er schüttelte seinen Kopf und zog seine Mütze fester. Schon ging er die ersten Schritte hinunter.
„Es ist doch nur noch dieses kurze Stück. Bitte!“, bettelte sie.
Er blieb stehen.
„Nur dieses eine Mal, Niklas!“
Da, als hätte er Tränen aus ihren Worten herausgehört, kehrte er um. „Aber wirklich nur dieses eine Mal! Danach nie wieder einen Gipfel oder sonst etwas, das nur zu Fuß zu erreichen ist. Und den Rucksack trägst du jetzt.“ Spitzbübisch grinsend nahm er ihn ab und hielt ihn ihr hin.
„Danke!“ Sie lachte, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf seine Wange, nahm den Rucksack auf und lief los, ehe er es sich anders überlegen könnte.
Schritt um Schritt ging es jetzt in Serpentinen weiter aufwärts. Die Schreie der kreisenden Dohlen klangen heller und lauter, je höher sie kamen.
„Eine halbe Stunde, ja?“, stöhnte Niklas bald vorwurfsvoll. Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, genau dort, wo der Weg dicht an dem Rand eines Felsabbruchs des Gipfels vorbeiführte.
„Was hast du?“ Verwundert drehte sich Marianne um.
„Ein Edelweiß! Da steht ein Edelweiß.“
„Wo?“ Sie ging ein paar Schritte zurück. „Oh, ja!“, rief sie entzückt.
„Das hole ich mir!“ Kaum gesagt, machte Niklas den ersten Schritt vom Weg ab zum Rand des Abbruchs hin.
„Komm, lass das! Es ist verboten.“
„Ach was, das eine …!“ Er hörte nicht auf sie.
„Niklas, das ist viel zu gefährlich! Da beginnt es schon felsig zu werden und es fällt steil ab.“
Doch er war nicht aufzuhalten. Er trat auf die anfangs noch zwischen Felsgestein bewachsenen Stellen, hielt sich aber schon an vorspringenden Felsen fest. So gelangte er an das Edelweiß und pflückte es. Dort aber, ein Stück weiter, sah er noch eins und dann noch eins und wieder eins.
„Niklas, hör auf! Komm zurück!“
„Gleich, nur noch dieses eine,“ rief er.
Doch dann gab es ein Stück weiter wieder eins und noch eins, er waren so viele. Voller Angst sah sie, wie er in seinem Eifer höher und weiter in den Felsabbruch geriet. Merkte er es nicht, auch nicht, wie tief der Abgrund unter ihm schon war?
Nein, er merkte es nicht. Wie im Rausch pflückte er eins nach dem andern und steckte sie in die Taschen seines Anoraks. Längst suchte er auf nacktem Felsgestein für seine Füße Halt und klammerte sich am Felsen fest.
„Hör auf, Niklas! Hör auf damit und komm zurück!“, rief Marianne eindringlich.
„Ja, ja! Ist gut!“ Endlich sah er es ein. Vorsichtig versuchte er, mit einem seiner Füße etwas tiefer einen Halt zu finden. Er rutschte ab, einmal, zweimal, dreimal. Jetzt versuchte er, nach einem Vorsprung hinunterzuschauen. Dabei erfasste er die Tiefe unter sich. Ihm wurde schwindlig. Er klammerte sich fester an den Felsen. So hing er dort und fühlte sich unfähig, noch etwas zu tun. „Marianne, du musst mir helfen, ich kann nicht mehr zurück“, rief er kläglich.
„Niklas, nein!“
„Doch! Tu was!“
„Ja, was denn? Soll ich die Sennerin holen?“
„Nein! So lange halte ich hier nicht durch!“
Unter seiner rechten Hand brach ein Stück Fels ab und polterte hinunter in die Tiefe. Die Hand griff ins Leere. Zitternd suchte er nach neuem Halt. Da rutschte ihm kurz auch der rechte Fuß weg.
Marianne schrie auf.
Endlos dehnten sich die Sekunden, bis er wieder neuen Halt gefunden hatte.
„Was soll ich tun? Was soll ich nur tun?“, fragte sie verzweifelt.
„Irgendetwas. Tu irgendetwas!“, drängte er.
Das Gipfelkreuz über ihnen verschwand im Nebel einer schwarzen Wolke, die sich langsam über den Gipfel schob. Sie merkten es nicht, auch nicht, als die Sonne dahinter verschwand. Ein kalter Wind kam auf, riss ihm die Mütze vom Kopf und ließ sie in die Tiefe segeln. Hat er es überhaupt gespürt?
„Niklas, wenn du es seitlich versuchst, ohne hinunterzuschauen …“
„Ich kann mich nicht mehr bewegen, weder seitlich noch sonst wohin. Kapierst du das nicht?“
Schwankte er? Konnte er sich so bewegungsunfähig nur noch mit letzter Kraft festhalten?
Marianne sah es. Sie überlegte nicht mehr, warf den Rucksack beiseite und getrieben von dem Wunsch, ihn da herauszuholen, suchte sie sich einen Weg zu ihm. Keinen Gedanken gab es mehr an irgendeine Gefahr. Stück für Stück, die kleinen bewachsenen Flächen ausnutzend, gelangte sie so weit an ihn heran, dass sie über sich einen seiner Füße fassen konnte. Sie nahm ihn und führte ihn vorsichtig hinunter auf einen Vorsprung, dann den andern Fuß nach. Kleine Steine lösten sich dabei vom Felsen und sprangen klimpernd hinunter in die Tiefe. So holte sie sich ihn Stück für Stück aus dem Rand der Felswand zurück, bis sich bei ihm die Bergsperre löste und er allein weiterkam.
Sie hatten den Weg und ihren Rucksack noch nicht erreicht, da brach ein Wolkenbruch über sie herein und durchnässte sie. Sie achteten nicht darauf.
Wieder auf festem Boden blieb Niklas stehen und sagte in sich gekehrt leise: „Das war knapp!“
„Ja“, stimmte Marianne zu.
Jetzt fielen sie sich in die Arme. So standen sie mitten im Regen, dankbar dafür, dass es gut ausgegangen war und sie sich noch hatten.
Danach jedoch saß ihm bereits wieder der Schalk in den Augen, als er fast schuldbewusst fragte: „Willst du noch hoch zum Gipfelkreuz?“
„Wie bitte?“, fuhr Marianne auf. „Das hast du mir ja erfolgreich vermasselt. Ich hätte weiter hochgehen und dich in der Felswand hängen lassen sollen, bis ich zurück gewesen wäre.“ Doch sie lachte dabei und gab ihm einen spielerischen Klaps.
Noch mit zittrigen Beinen, eingepackt in ihr Regenzeug über nassen Sachen, begannen sie den Abstieg auf Wegen, die zu Bächen wurden. Nun wusste er, warum Marianne auch bei Sonnenschein Regenzeug einpackte. Jedes gepflückte Edelweiß aber trug er dabei trocken und sicher verborgen in seinem Anorak – nur ein wenig zerdrückt sahen sie später aus. |
Letzte Aktualisierung: 18.10.2013 - 20.25 Uhr Dieser Text enthält 10217 Zeichen. www.schreib-lust.de |