Rausch | Oktober 2013
| Nachtfeind | von Susanne Ruitenberg
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Jede Nacht geschieht es.
Jede Nacht um drei Uhr.
Sie erwacht von dem Geräusch.
Beim ersten Mal dachte sie, der Nachbar lasse ein Bad ein (um diese Uhrzeit?), oder ein plötzlicher Temperatursturz habe die Heizung dazu veranlasst, heiße Fluten in die Heizkörper zu spülen.
Bei genauerem Hinhören klang es jedoch nicht wie Wasser.
Während sie noch rätselte, hörte das Geräusch auf. Irgendwann schlief sie wieder ein.
In der zweiten Nacht mutete es an wie starker Wind, der das Haus umweht und in jeden Winkel dringt, die Bäume streift und das Laub zum Singen bringt. Sie stand auf, trat auf den Balkon - um dort festzustellen, dass sich kein Lüftchen regte.
In den nächsten beiden Nächten wacht sie bereits vor drei Uhr auf. Zitternd liegt sie in ihrem Bett, wartend, wissend, dass das Geräusch sie gleich überfallen wird und sie ihm nicht ausweichen kann.
Als es kommt, rast ihr Herz und ihr wird schwarz vor Augen.
Das Geräusch ist das Brausen ihres Blutes, es dröhnt in ihren Ohren und übertönt die Außenwelt. Sie steht auf, geht von Raum zu raum, prüft, öffnet, schließt, findet nichts, wie erwartet; hat das Bedürfnis, zu fliehen, doch wohin - das Geräusch wird ihr folgen, dessen ist sie sich sicher.
Sie weiß nicht mehr, wie sie ihren Alltag bewältigen soll. Isst, arbeitet, agiert mechanisch, wie ein Roboter, ein Fremdkörper in ihrem eigenen Leben.
Die gut gemeinte Fürsorge von Freunden prallt an ihr ab, was könnten sie schon ausrichten? Nachts, wenn das Geräusch kommt, wird niemand bei ihr sein, es gehört ihr allein.
Einen Arzt sucht sie nicht auf. Sie glaubt nicht an diese Zunft. Bald ist sie ein Schatten ihrer selbst.
Als Nächstes hört sie es tagsüber; auch nachts, vor und nach der bewussten Uhrzeit, an der es sein festes Rendezvous mit ihr hat, oder sie bildet es sich ein, oder aber ihre Ohren haben sich so sehr daran gewöhnt, dass sie es ihr vorspielen, fixiert in ihrer Erwartungshaltung, es gewissermaßen in ihr Hirn projizieren, obwohl es noch gar nicht da ist.
Sie versucht es auszutricksen, mit Musik zu übertönen, dreht die Lautstärke auf, bis die Kopfhörer vibrieren und ihre Ohren schmerzen.
Das Geräusch verdoppelt seine Anstrengungen.
Betäuben will sie es, mit Tabletten, mit Alkohol, doch außer einem fürchterlichen Kater am nächsten Tag hat auch das keinen Effekt.
Als letzten Ausweg, und weiß Wochenende ist, fährt sie weg, willkürlich hat sie ein Bahnticket gekauft für den erstbesten Zug, betritt ein Hotel, nimmt ein Zimmer, in einer der obersten Etagen, bestellt ein Sandwich beim Zimmerservice, isst, sieht fern, legt sich vor Mitternacht ins Bett, wartet, über das Warten schläft sie ein.
Das Geräusch dringt dieses Mal bis in ihre Träume, sie ist ein winziges Kind am Strand, und die Wellen tosen, umspülen sie, schwemmen sie fort; sie ist ein Blatt am Baum, der Wind schüttelt sie, sie und ihre Blattgeschwister, schließlich fällt sie, fällt so tief und während des Fallens verwandelt sie sich in eine Ratte im Bahntunnel, der herannahende Zug tost, sie kann gerade noch von den Schienen springen. Sie schreit und weckt sich damit selbst, tränennass ihr Gesicht, zerwühlt die Laken.
Es gibt keinen Ausweg. Sie weiß, was zu tun ist.
Das Geräusch ist noch nicht verstummt, da betritt sie den Balkon und zieht einen Stuhl zum Geländer.
Während sie fällt, wird sie endlich eins mit dem Rauschen.
©Susanne Ruitenberg
Version 1
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Letzte Aktualisierung: 16.10.2013 - 23.58 Uhr Dieser Text enthält 3409 Zeichen. www.schreib-lust.de |