Rausch | Oktober 2013
| Der Morgen danach | von Helga Rougui
|
Heute im Morgengrauen – mein allererster Termin: Frühstücksgericht.
Ich seufze. Es ist nicht so, wie man denken könnte.
Meine Vision von frischen Brötchen mit goldgelber Orangenmarmelade, Rührei von glücklichen Eiern, Frühstücksspeck von knusprigen Schweinen und sahnigem Porridge verblaßt sofort, als ich die Küche betrete und mich schlechten Gewissens an der geräumigen Ikea-Fichtenholz-Speisetafel niederlasse.
Mir gegenüber: der Gott der Vernünftigen Ernährungsweisen, flankiert von den Erzengeln der Nüchternheit und Mäßigung, als Zeuge sind der Wächter des Weges Zur Hölle Ist Mit Guten Vorsätzen Gepflastert sowie das Schwarze Biest der Unkontrollierten Muffinsaufnahme geladen. Ich vermute, die anderen Zeugen, deren Namen mir momentan partout nicht einfallen wollen, warten hinter dem Vorhang, der gnädig die Exzesse des letzten Abends verhüllt.
"Angeklagte."
Ich schrecke hoch. Das bin ich, keine Frage.
Und ich kenne meinen Text, versuche das Verfahren abzukürzen.
"Ja, hier, anwesend. (Und wie. Vermutlich zwei Kilo zugelegt seit gestern.) Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Speisekarte. Nach gehaltvollem, aber übersichtlichem Frühstück gingen angesichts des Backfischs am Mittag und ab da die Pferde mit mir durch. Alles, was folgte, nahm ich nicht aus Hunger, sondern aus reiner Lust und Gier zu mir. Anschließend hatte ich die ganze Nacht Magendrücken und ein mulmiges Gewissen. Ich will es nie mehr wieder tun."
Der Gott verdreht die Augen, bis man das Weiße sehen kann. Sieht aus wie Blaubeeren in Sahne, denke ich noch, bevor er mich anherrscht, mich zu konzentrieren.
Was ich nicht kann und nicht vorhabe. Ich habe heute nacht schon genug mit mir gehadert und mich gefragt, warum ich angesichts eines Haufens ungesunder Lebensmittel regelmäßig die Beherrschung verliere, anstatt die turmhohen Gebirge aus ungutem Essen einfach links liegen zu lassen.
Kannst du ein Problem nicht lösen, so löse dich vom Problem. Als erstes müßte ich da wohl den Kühlschrank abschaffen.
Gedankenverloren gehe ich, öffne seine Tür und hole mir ein Joghurt, nicht fettarm, nicht ohne Zucker, dafür nur ein Prozent Erdbeeren und reichlich zerdrückte Maikäfer. Ich ziehe die Alulasche ab, versenke meinen Löffel, hm, schmeckt nicht. Egal.
Die Jury hat sich nach oben auf den Küchenschrank verzogen. Die Stimme des Gottes dringt von weit her in mein Bewußtsein.
" ... demonstriert uns die Angeklagte gerade in augenfälliger Weise selbst den Prozeß ihrer Selbstenthemmung ... das Strafmaß sollte daher die niedrigste überhaupt denkbare Wasser-und-Brot-Ration ..."
Was, was, was? Wer bin ich denn, daß ich mich hier am frühen hungrigen Morgen von einer Bande ungerufener und selbsternannter Tugendwächter schurigeln lasse?
Ich hab jetzt mal Appetit auf Spiegeleier mit Toast und ein Wurstebrot.
Über die vergangenen Untaten und das neue Leben danach können wir reden, wenn ich satt bin. Und keinen Moment eher.
|
Letzte Aktualisierung: 13.10.2013 - 10.29 Uhr Dieser Text enthält 2948 Zeichen. www.schreib-lust.de |