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Rausch | Oktober 2013

Auserwählt
von Hajo Nitschke

„DÄ, DÄ NÄCHT ONGÄHÖRÄN DÄN AUSÄRWÄHLTÄN, WÄRDÄN GÄWORFÄN ÄN DÄN FEURIGÄN PFUHL! DAROM KÄHRET OM, ÄHR VÄRSTOCKTÄN DAHINTÄN!“

Wenn ich Rainer-Maria an dieser Stelle ausblenden darf: Mit den Verstockten sind wir hier im Trainingscamp gemeint, wir Mobilhausbesitzer, die sich gerade auf den Letzten Tag vorbereiten. Aber das ist RM zufolge Hochmut, niemand dürfe der himmlischen Vorsehung vorgreifen. Viele seien berufen, Wenige auserwählt. Zu den Wenigen gehört derzeit nur RM's Sekte: Schleimer vor der Großen Schnecke, dass es uns Häuslebauern übel wird …
„Vorsicht, Anton(ia)!...“

Autsch, das tat weh. Voll gegen die Wand! Anton(ia)s Rauschbewältigung ist im Plan zurück. Aber er-sie schafft es, jeden Bierbecher leerzusüffeln und ins Freie zu klettern.
„Hasssu dasss – g'sssehn, Jo- Jo- Johannn(a)? Wo k-k-kommmt – hicks – plllössslich der – äh – Busss her?“
„Das ist kein Bus, Anton(ia), sondern der Schneckenzaun!“ ...

… an dem soeben Franz(iska) das Kletterprogramm absolviert. Es gibt kein Blatt, das nicht erreichbar wäre, zumal mit genetisch erworbener Salat-Navi.
Aber der Riesen-Sprecher sagt gerade etwas.

**

„Und hier, Herrschaften, sehen Sie beide Gruppen getrennt: links die Gehäuseschnecken, rechts die Nacktschnecken. Heute sind viele Exemplare unterwegs, das ist bei einem Regentag so. Wie Sie wissen, sind sie Zwitter, haben also im Genitaltrakt Penis und Vagina dicht nebeneinander. Praktisch, hähähä! … Wie bitte, Gnädigste? …
Nein nein, Nachwuchs können auch Schnecken nur durch Paarung erzeugen. Doch nun zum heutigen, ganz besonderen Tag: Das Rennen wird gleich nach dem Kaffeetrinken stattfinden, vorher das Einsammeln: Sie dürfen gerne helfen. Freuen Sie sich auf ein spektakuläres Event ...“


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Wir wissen, was er meint. Dank spezieller Schneckenpost verstehen wir sowohl uns untereinander als auch die Sprache der Riesen.
Die Konkurrenz drüben feixt in Vorfreude auf den vermeintlich bevorstehenden Triumph.
„Da gibt’s nix zu lachen!“, rufe ich hinüber.
„Oho, auch noch frech! Ihr könnt trainieren wie bekloppt, es wird euch nichts nutzen. Die Erwählten sind wir ... Nicht wahr, Bruderschwester Rainer-Maria?“

„SÄHR RÄCHTÄG, LIEBÄ GÄMEINDÄ! NÄCHT DÄ DA, SONDÄRN ÄHR WÄRDÄT ÖBÄRWÄNDÄN OND DÄ KRONE DÄS LÄBÄNS ...“

„Du hast schon jetzt einen an der Krone!“, kontert Alex(andra) lauthals. Er-sie ist etwas aggressiv. Der vereiterte Raspelzungenzahn 34.507 musste gezogen werden, was zwei Stücke Blütenblatt kostete. Er-sie hat bereits über sechshundert Zähne und entsprechend viele Blattecken verloren, aber der Vorrat im Beet schmilzt auch aus anderen Gründen. So ist es kein Wunder, dass Alex(andra) der elitären Gesellschaft wütend entgegenschleudert:
„Arbeität liebär an euräm Ändspurt, ihr värklämmtän Schleimär! Ond haltät euch von meinäm Blumänbäät färn!“

„Habt ihr das gehört? Das Biest äfft unsere(n) Rainer-Maria nach!“

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„Was Sie hier sehen, ist ungewöhnlich. Die beiden Gruppen belagern sich in drohender Haltung. Wir vermuten Revierkämpfe. Die beiden Platzschnecken wollen ihre Familienmitglieder nicht kampflos ...“

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Achtung, sie haben Angriffshaltung eingenommen, die unbehausten Heiligen. RM feuert sie an mit dem markigen Traditional 'Onward christian soldiers'.
Ich protestiere:
„Bleibt, wo ihr seid! Wir haben zu tun, Schleimgesichter!“
Alex(andra) setzt einen drauf:
„Ähr seid arg laangsaam. Schlaft ähr im Stähen ein?“

„Das reicht, ihr Hinterhäusler! Wir machen euch zur Schnecke!“
Dagegen haben wir ein wirksames Mittel: wir verkriechen uns in solchen Fällen in die Häuser, an denen wir nicht grundlos jahrelang gebaut haben. Als sie sehen, dass wir entsprechende Anstalten machen, geben sie auf. Jemand brüllt:
„Dann viel Spaß beim Training, Verfluchte! Ihr werdet trotzdem nur unsere Gesäße sehen!“

'Eure Ärsche', meinst du wohl …
Aber nun das Trainingsprogramm. Schwerpunkt unseres Leistungszentrums ist die Piste. Wir Schleimreduzierer rennen sie von Kindesfüßen an rauf und runter, die geborenen Sprinter.
„Los, Leute! Vier-mal-30-Zentimeter-Staffel!“
Das Staffel-Grashälmchen wechselt reibungslos seine(n) Mannfrau.
Zur Entspannung der 30-Zentimeter-Hürdenlauf. Zuletzt die 60 Zentimeter.Wir schaffen es auch heute mit blendenden Zeiten. Die Nackten krümmen sich vor Lachen und spotten:
„Werft eure Häuser weg, ihr seid zu langsam!“ Und RM tönt:

„ÄHR HÄNGÄT EURE HÄRZÄN AN ÄRDISCHE GÜTÄR. HÄUSÄR!! WIR HABÄN HIER KEINE BLEIBÄNDÄ STATT, TRÄNNÄT EUCH DAVON ...“

Das hätten die gerne: Ohne unsere Häuser würden wir verrecken. Aber wehe, man hat nicht schnell genug die Haustür hinter sich gesclossen: Mit Säure und giftigem Schleim haben die Nackten schon oft unsere Reihen gelichtet.
Die 60 Zentimeter gleich noch mal, auch wenn das in die nicht vorhandenen Knochen geht! Und immer schön Schleim sparen. Bei einem so feuchten Tag brauchen wir ihn nicht, und unsere Fußsohlen sind abgehärtet.

Wir schließen mit dem täglichen Schneckenkorn-Ritual: Karl(a) tut so, als verspeiste er-sie die Attrappen. Die sehen so echt aus, dass alles jedesmal entsetzt aufschreit. Und wenn Karl(a) sich scheinbar qualvoll dem Ende entgegenwindet, fangen die besonders Sensiblen an zu weinen. Ich bin zufrieden. Wie tief die Konditionierung doch schon verankert ist!
Der Letzte Tag ist da: Die Riesen beginnen uns einzusammeln. Sind wir vorbereitet? Jedenfalls ist alles genau abgesprochen ...

**

„Ich stelle Ihnen das Teilnehmerfeld vor. Mit Gehäuse die großen Weinbergschnecken, die kleineren Bergschnecken; die mit dem muschelartigen Haus sind Hain-Schnirkler, die flachen, braunen Häuschen gehören Bernsteinschnecken. Ihnen zahlenmäßig überlegen sind die Nacktschnecken. Sie erkennen die roten und schwarzen Wegschnecken an den Farben, dazu noch die etwas schmuddeligen Ackerschnecken. Sie alle, mit und ohne Haus, haben an natürlichen Feinden Igel, Ente, Elster, Drossel, Maulwurf, Gärtner und – Feinschmecker. Wir lassen uns den Appetit nicht nehmen, stimmts? Nur der Sieger wird verschont, die Verlierer sehen wir in unserem französischen Gourmetrestaurant wieder. Haben Sie Ihre Einsätze gemacht? …
Gut. Ich öffne nun die Klappen, die Automatik wird das Köder-Salatblatt vor den Schnecken herziehen. Los geht’s!“


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Unsere Tastfühler liegen konzentriert voraus auf der Startbahn, die Augenfühlerpaare sind wachsam aufgestellt. Vor uns das Geläuf, neben uns die Auserwählten. RM intoniert ihr altes Gemeindelied:

„WÄR NÄCHT LÄUFT OND LÄUFT ZU SCHLÄCHT, DÄR VÄRSÄUMT SEIN KRONÄNRÄCHT.“

Das setzt allem wirklich die Krone auf, RM's Schneckenschäfchen stimmen mit siegessicheren Seitenblicken ein. Da schwingen endlich die Klappen auf, der Choral bricht ab. Wir legen unisono einen explosionsartigen Start hin, wie vom Katapult geschossen. Die Nackten leider auch, und sie sind schnell! Sind bald eine halbe Körperlänge voraus.
Tempo, Leute! Gebt alles!

80 Zentimeter sind lang. Bei einem zulässigen Rückenwind von 0,5 mm/sek. kommen wir Häusler in Fahrt. Ich mache es ihnen vor, lege einen Gang zu.
Dafür das lebenslange Kräftemessen, die Wettkämpfe, die Meisterschaften. Das Feilen an der Technik. Alles für diesen einen Moment!
Die Nackten spüren unseren Atem an ihren schleimigen Flanken.
Ich lege den Turbo ein. Mein innerer Hochgeschwindigkeitsmesser zeigt an, dass ich inzwischen mit unglaublichen 0,042 km/h vorwärtsrase. Eine Wahnsinns-Pace. Noch nie war eine Schnecke so schnell. Rund 1,11 mm/sek., ein mörderisches Tempo!

Ich strecke mich, die Kamerad(inn)en tun es mir nach.
Ich wechsle auf die Ãœberholspur, die Anderen ebenfalls.
Ich fliege wie ein Schemen mit elegantem, ökonomischen Bewegungsablauf an den Erwählten vorüber, die Übrigen tun das Gleiche.
Es ist ein Gefühl des Losgelöstseins. So ähnlich wohl wie die Trunkenheit Anton(ia)s. Nur, dass wir keinem biergefüllten Pappbecher, sondern einer dahinjagenden Meute entkommen müssen.

Wir setzen uns millimeterweise ab. Das Gefühl grenzenloser Euphorie verstärkt sich in mir. Muskelkontraktionen in fliegendem Rhythmus, alles wird plötzlich leicht. Ich bin nicht mehr auf dieser Welt. Bin ein Geschoss, eine lebende Cruise-Missile aus ledrig ummanteltem Gewebe. Gleite wie in einem Paralleluniversum im eigenen Luftstrom dahin, während rings um mich unwirkliche Stille einkehrt. Mehr von diesem Gefühl, ich will mehr! Doch dann, wenige Millimeter voraus, die Ziellinie! Ich muss mich als Führende(r) vom lockenden Sog des Tempos losreißen. Die Absprache! Jähe Ernüchterung. Das brachiale Bremsmanöver wird kurz vor dem Zielband abgeschlossen ...

**

Welch ein Rennen! Vorne, ganz erstaunlich, die Gehäuseschnecken. Offensichtlich vermögen sie ihre Schleimproduktion zu drosseln und die frei werdende Energie in Geschwindigkeit umzusetzen, während die Anderen auf ihrer eigenen Schleimspur das Rennen bestreiten. Doch was passiert hier? Herrschaften, das ist nicht wahr! Eine einzelne Weinbergschnecke schien das Rennen zu machen, und jetzt? Ich glaub es nicht! ...

600 Millionen Jahre mussten vergehen, Aberzehntausende Schneckenarten entstehen, nur damit wir Zeugen dieses Augenblicks werden? Eben noch bewegte sich die Spitzenreiterin mit Usian-Bold-Tempo auf das Ziel zu, dicht gefolgt von den Übrigen ihrer Art. Und nun verlangsamt sie, lässt die restlichen Gehäuseschnecken aufschließen! Und da … Sehen Sie, was ich sehe? Das gibt es nicht! Was für ein Finish! Sämtliche Gehäuse überqueren die Linie in einträchtiger Phalanx der Tastfühler, abgeschlagen folgen die Nacktschnecken. Das Zielfoto bestätigt es: wir haben nach einer Weltrekordzeit von exakt zwölf Komma neun Minuten nicht eine einzelne Siegerin, sondern gleich fünfundzwanzig! Ich halt' das nicht aus! Und nun?“


**

Und nun erfüllt sich Rainer-Marias apokalyptische Prophezeiung. Aber hören Sie ihn selber:
„ÄS IST AUS MÄT ONS, BRÜDERSCHWÄSTERN UND SCHWÄSTERBRÜDER. TRÄUMPH DÄR KÄTZÄR, ONSÄR DÄS MARTYRIUM! WÄLT ADÄÄ ...“

Nun gut, ein bisschen Mitleid stellt sich ja doch ein. Auserwählt …
… für die Schneckenpfanne mit Kräuterbutter.


@Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 09.10.2013 - 08.10 Uhr
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