Diese Seite jetzt drucken!

Rausch | Oktober 2013

Gipfelrausch
von Eva Fischer

„Seh’ ich euch dort in nebelgrauer Ferne,
Emporgetürmt in’s blaue Himmelszelt,
Nun von dem Gluthauch der Sonn’ erhellt
Mir winken – O wie zög’ ich da so gerne
Zu euch! Das Herz pocht auf, die Träne fällt.
Ergriffen senkt der Geist die regen Schwingen
Und heiß vor Sehnsucht will das Herz zerspringen.“

Diese Zeilen stammen definitiv nicht von mir. Selbst wenn ich dichterische Fähigkeiten besäße, wären sie mir nie eingefallen..
Lars jedoch kriegt glasige Augen, sobald er sich das Bergsteigen auch nur vorstellt, also haben wir in den Sommerferien Österreich gebucht.
Bergsteigen macht man, vor allem als Anfänger, nicht allein. So haben auch wir uns einer Gruppe angeschlossen, die von dem erfahrenen Bergbauern Schorsch geführt wird.

Wir kennen unsere Mitwanderer, allesamt Pensionsgäste wie wir. Ein Stückchen fahren wir mit dem Leiterwagen nach oben, der von zwei Pferden gezogen wurde. Das gefällt mir, weil sich so der Aufstieg verringert, und ich es unglaublich romantisch finde, neben Lars auf einer Holzbank zu sitzen.

Die Pferde halten an einer Almhütte. Nun wird es ernst. In ungefähr zwei Stunden haben wir unser Ziel erreicht, verspricht Schorsch. Ganz verstehe ich das nicht, denn der Gipfel scheint mir zum Greifen nah.

Obwohl doppelt so alt, läuft Schorsch doppelt so schnell wie ich. Während ich nach Luft ringe und mein Herz Amok läuft, klettert er leichtfüßig wie eine Gemse den Berg hinauf. Zum Glück hat er ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Er erklärt uns, welch seltene Pflanzen den Wegesrand säumen und wie die Berge hießen, die unser Ziel umringen. Behalten habe ich davon nichts, denn ich nutze die Pausen, um meine Pumpe wieder unter Kontrolle zu bringen.

Dafür schaue ich mir die Mitstreiter an, überwiegend Pärchen, teils mit schulpflichtigen Kindern. Ihre Ausrüstung ist nicht besonders profihaft. Auch ich trage keine Bergsteigerschuhe. Wer investiert schon in etwas, wenn er nicht weiß, ob es sich für die Zukunft rentiert? Die anderen haben allerdings Rucksäcke, während ich mich von meiner Handtasche nicht trennen kann. Warum sich unnötig beschweren? Schließlich will ich da oben nicht übernachten.

Bei einer der Pausen sehe ich, wie die Bergsteigercrew Wasserflaschen aus dem Rucksack zieht. Wo bleibt das muntere Bergbächlein, das mir den Durst stillen kann? Ich halte Ausschau nach Lars. Vergeblich. Er schwebt sicher schon dem Ziel entgegen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir das Gipfelkreuz. Für alle ein Grund zur Freude, auch für mich, doch ich habe vor allem Durst und Lars ist noch immer nicht in Sicht. Dafür reicht mir Schorsch eine Flasche. Meine Begeisterung legt sich nach dem ersten Schluck, als ich merke, dass es sich um selbstgebrannten Obstler handelt. Wasser wäre mir definitiv lieber. Der Obstler stillt zwar keinen Durst, aber er duchströmt wie Lava meine Adern, bringt mich in versöhnlichen Einklang mit meiner momentanen Lage. Den Rückweg blende ich erst mal aus.

Schorsch lässt die Flasche erneut kreisen. Dem nächsten Schluck folgt ein euphorischer Schub. Nein, wirklich, es ist echt toll, die Welt mal von oben zu betrachten. Eine ganz neue Erfahrung! Die Menschen weiter unten sehen aus wie Ameisen. Vielleicht ist eine davon Lars. Ich kichere bei dem Gedanken und winke.
Schon landet die Flasche wieder bei mir. Entweder wird sie wundersamerweise nie leer, oder Schorsch hatte mehrere davon in seinem Rucksack.
Der nächste Schluck verleiht meiner Phantasie Flügel.
Ich entdecke Gesichter auf den bis vor kurzem mir öde erschienen Bergrücken. Während ich rätsel, an wen sie mich erinneren, spricht mich eine Frau an. Bisher kennen wir uns nur vom Sehen, aber nun kommen wir locker ins Gespräch. Sie ist mir auf Anhieb symphatisch, denn sie gesteht mir, dass sie nur Marco zuliebe hier hochgeklettert sei.
„Ich heiße Andrea“, sage ich. Wir beschliessen, Brüderschaft zu trinken, obwohl wir einstweilen nur Schwestern sind, was sich bald ändert, als sich Marco und Christian zu uns gesellen.
Wo bleibt nur Lars? Ich hätte ihm gerne meine neuen Freunde vorgestellt, die sogar ihre letzten Wasservorräte mit mir teilen.

*

Seine Schritte werden schneller, ganz von alleine, ohne sein Zutun, als ob seine Füße den Pfad wiedererkennen, ihn freudig willkommen heißen.

Vor über 20 Jahren ist er ihn mit seinem Vater gegangen. Da war er acht und mächtig stolz, dass er ihm einen Aufstieg von vier Stunden zutraute, denn sie starteten vom Tal aus, ließen sich nicht bis zur halben Höhe kutschieren.
Schweigend, Seite an Seite, spürten sie ihre Muskeln wachsen, atmeten gleichmäßig die reine Bergluft, achteten auf den Pfad und doch weitete sich ihr Blick für dieses herrliche Panorama, das sich so vollkommen von der Kleinstadt unterschied, in der sie lebten. Ehrfürchtig betrachtete er die steinernen Riesen, denen er sich nähern durfte. Sie machten ihm bewußt, wie klein er war. Selbst sein Vater verlor an Größe, aber gleichzeitig ließen sie die Berge an ihrer imposanten Höhe teilhaben.
Als Kind hätte er diese Gedanken nicht in Worte fassen können, aber er kann sich erinnern, dass er am Ende dieses Tages ein anderer war. Sein Körper hatte bewiesen, dass er zu mehr fähig war als zu Kinderspielen. Er hatte einen Blick in die Erwachsenenwelt geworfen, hatte begriffen, dass ihn jeder Meter weiter nach oben brachte, wo die wunderbare Belohnung wartete, endlich auf Augenhöhe mit diesen zeitlosen Giganten zu sein.

Vielleicht werden seine Schritte auch schneller, weil er die Stimmen in seinem Rücken nicht mehr erträgt. Albernes Geschwätz. Wie kann man sich jetzt für Blumen interessieren?
Es war wohl ein Fehler, mit Andrea diesen Weg zu gehen. Frauen müssen immerzu reden.
Der Bergwelt kann man sich nur schweigend nähern.

Er sieht das Gipfelkreuz vor sich, doch er will den Moment des Ankommens noch hinauszögern. Einmal das Ziel erreicht, bleibt nur der Abstieg.

Nein, er entscheidet sich, abseits des Pfades zu gehen.. Seine Schritte werden durch das weiche Gras abgefedert. Durch seine Muskeln pulsiert ein Gefühl der Lust. Wälder und Auen, so weit sein Blick reicht. Zwischen ihnen ragen majestätisch die Bergrücken empor. Er füllt seine Lungen mit der sonnengeschwängerten Luft, die nach Gras und Freiheit riecht.
Ein Vogel zieht am blauen Himmelszelt seine Kreise.

„Seh’ ich euch dort in nebelgrauer Ferne...“

Warum fallen ihm jetzt diese Zeilen ein?
Andrea hat sie aus dem Internet und ihm heute morgen auf den Frühstückstisch gelegt.

„Heiß vor Sehnsucht will das Herz zerspringen.“

Genau. Das trifft es. Besser als jeder Alkoholrausch, ja, besser als Sex. Obwohl...

Er muss zurück zu den anderen.

Das Gipfelkreuz ist nicht mehr zu sehen.
Wo ist der Weg, den er verlassen hat?
Wie kann man sich so nah vor dem Ziel verlaufen?
„Keine Panik, Lars!“, hämmert es in seinem Kopf.
Wenn du weiter nach oben steigst, kommst du irgendwann an.

*

„Laaars!“
Keine Antwort. Nicht einmal ein Echo.
Doch meine neuen Freunde stimmen mit ein in den Lockruf.
„Laaaaars! Huhu! Wo bist du?“
Verflixt, wie ist das nur möglich? Die ganze Zeit war er doch vor mir. Während wir noch wild herumspekulieren, wo Lars geblieben sein könnte, erkenne ich von Weitem einen grauen Anorak, in dem Lars stecken könnte. Sofort setze ich mich in Bewegung und tatsächlich,
er ist es.
„Ich habe dich vermisst“, lächle ich ihn an und will ihm einen Kuss verpassen, was zugegebener Weise nicht auf Anhieb klappt.
Er schaut mich skeptisch an.
„Wie bist du denn drauf?“, will er wissen.
„Du der Schorsch hat eine Runde Obstler springen lassen. Vielleicht kriegst du auch noch was ab.“
„Aha“, ist die wenig begeisterte Reaktion.
„Und wer ist das?“
„Das ist der Christian. Das ist ein Schweizer, der in Österreich Urlaub macht.“ Während ich diese Bemerkung unheimlich witzig finde, verzieht Lars keine Mine.
„Grüezi! Da ist ja unser Ausreißer. Hier hat’s noch einen Willkommenstrunk.“
Christian reicht Lars die Flasche, der sie jedoch wie einen Fremdkörper anstiert.
„ Na Prosit! Hast den Rübezahl getroffen oder was guckst so ernst?“
Lars erklärt, dass er ein bisschen Waldeinsamkeit habe schnubbern wollen, aber das scheint keinen so recht zu interessieren.

Der Weg zurück zur Bergalm verkürzt sich, was daran liegt, dass es abwärts schneller geht als aufwärts. Außerdem macht die Pumpe keine Zicken mehr und das Zwicken in den Knien lässt sich beim angenehmen Plaudern leichter verschmerzen.

Die Pferde schauen uns neugierig an, als wir um die Ecke kommen. Klar, bevor wir auf den Leiterwagen klettern, muss noch eine Runde Obstler her. Einige Mütter beschließen daraufhin, den Abstieg mit ihren Kindern zu Fuß fortzusetzen, denn die Runde wird immer fröhlicher und sie trauen dem Schorsch nicht mehr recht, dass er seine Gäule noch unter Kontrolle hat.
Sein „Klar doch! Ich könnt’ blind fahren.“, beruhigt sie auch nicht besonders.
Lars scheint körperlich noch nicht ausgepowert zu sein und bietet sich den beiden Müttern als Bergführer an.

Wir singen „Hoch auf dem gelben Wagen“, vermutlich, weil wir sonst keinen Text auswendig kennen.
Das Gefährt rumpelt die holprigen Bergwege hinab. In den Kurven verliere ich etwas die Kontrolle und lande bei Christian halb auf dem Schoß.

„Komm an meine Schweizer Brust!“, verkündet der Nachfahre von Wilhelm Tell und umfasst mich mit seinem starken Arm. Die körperliche Nähe hat eine beruhigende Wirkung auf mich, so dass ich alsbald in einen süßen Schlummer falle.

Als das Pferdegetrappel aufhört, werde ich wach. Wir sind vor unserer Pension angelangt.
Zum Abendessen gibt es Forelle, eigentlich mein Lieblingsessen.
Ich werfe nur einen kurzen Blick auf den Fisch und seine Augen.
Dann weiß ich. Heute werde ich nichts mehr essen, aber viel Wasser trinken.
Lars hingegen verfügt über einen gesunden Appetit.


3.Fassung

Letzte Aktualisierung: 06.10.2013 - 15.24 Uhr
Dieser Text enthält 9865 Zeichen.


www.schreib-lust.de