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Rausch | Oktober 2013

Vergessen
von Ingo Pietsch

Der Wind riss an Melissas Kleidung. Die Siebenjährige saß alleine auf einer Wippe im Stadtpark und sah mit geröteten Augen in den Sonnenuntergang.
Es war ein warmer Herbstabend und trotzdem zitterte sie, denn ihre Traurigkeit ließ sie frieren.
Rote, gelbe und braune Blätter wirbelten herum. Ein kleiner Ast schlug ihr ins Gesicht, doch sie spürte den Schmerz kaum. Dafür spürte sie aber die Dunkelheit, die sich in ihrem Herzen ausbreitete, als sie an vorhin dachte, als ihr Vater von der Arbeit gekommen war.
Melissa hatte am Küchentisch ein Bild gemalt und ihre Mutter war dabei gewesen, das Essen zu kochen.
Wütend war er in die Küche gestürmt. Er warf seine Aktentasche in die Ecke und erklärte aufgebracht, dass er genug von seinem Job hatte. Ständig unbezahlte Überstunden, immer mehr Stress, aber mehr Geld gab es auch nicht.
„Schon wieder das gleiche Essen! Und fertig ist es auch noch nicht! Was glaubst du eigentlich, was ich den ganzen Tag lang mache? Däumchendrehen? Da kann ich doch wohl erwarten, dass der Fraß, den du mir hier ständig servierst, wenigstens warm ist, wenn ich nach Hause komme!“
„Denkst du etwa, dass ich den ganzen Tag auf der Couch liege und der Haushalt sich von ganz alleine erledigt?“, fragte sie beleidigt zurück.
Das Klatschen der Ohrfeige ließ Melissa aufblicken.
Die Situation war wie eingefroren. Ihr Vater hielt die Hand immer noch hoch und starrte seiner Frau ins erschrockene Gesicht.
Schließlich löste sich Melissas Mutter aus ihrer Starre und rannte schluchzend ins Schlafzimmer.
„Warte! Ich, ich …“, ihrem Vater fehlten die Worte. Er sah Melissa an: „Was glotzt du so? Habe ich deine heile Welt etwa zerstört?“ Er verließ die Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.
Melissa liefen Tränen über die Wangen. Die Kartoffeln kochten über und der Rotkohl brannte an. Geistesabwesend schaltete sie den Herd aus, nahm ihre Jacke und ging in den Park.

***

Die Böen hatten sich zu einem Sturm entwickelt. Eine Mutter rief ihren Sohn, er solle jetzt mit nach Hause kommen, doch Melissa konnte die Worte im Einzelnen kaum verstehen. Der Wind rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie ihre Hände darüberhielt. Ihre Haare wirbelten um ihren Kopf. Sie stand auf, breitete die Arme aus und ließ sich fallen. Die Luft trug sie, wenigstens für einen Moment. In dem sie alles um sich herum vergaß, in dem sie sich frei fühlte. Doch dieser Moment verging viel zu schnell. Sie brauchte mehr.

***

Melissa stand auf einer Fußgängerbrücke. Unten rasten Autos, LKWs und Motorräder auf der Autobahn hin und her.
Sie lehnte sich über die Brüstung und genoss den gelegentlichen leichten Sog, der sie nach unten zu zerren versuchte, aber zu schwach war. Sie fragte sich, wie es wohl sein würde, direkt neben der Autobahn zu stehen.

***

Diesmal war es viel schlimmer gewesen. Ihr Vater hatte nicht einen Ton gesagt und ohne Vorwarnung mit der Faust zugeschlagen. Melissas Mutter war wimmernd in eine Ecke der Küche gekrochen und hielt schützend ihre Ellbogen vor ihren Körper. Ihr Vater hatte die Töpfe vom Herd geschleudert und war wieder verschwunden.
Melissa hatte alles mitansehen müssen. Sie war zu ihrer Mutter gekrochen und streichelte sanft ihre Haare. Ihre Mutter nahm sie in die Arme und drückte sie innig.
Melissa brachte ihre Mutter ins Bett. Willenlos hatte sie es sich übergehen lassen, wie Melissa ihr die Schuhe auszog und sie dann zugedeckte.
Melissa war zur Brücke gegangen.

***

Melissa war die Böschung hinuntergestiegen und saß jetzt geduckt neben der Leitplanke. Sie fasste allen Mut zusammen und stand auf. Ein LKW brauste vorbei. Erst schubste der Druck sie von Planke fort, dass sie sich festklammern musste und als er vorbei war, zog es sie zurück. Das Spielchen machte Spaß. Es ließ sie vergessen. Melissa genoss das näherkommende Brummen und Surren der Motoren und wie es wieder leiser wurde.
Ehe sie sich versah, stand sie auf der anderen Seite, direkt auf der Fahrbahn. Sie ging zielstrebig Schritt für Schritt auf die Fahrbahnmitte zu, ignorierte die hupenden Fahrzeuge.
Die Wirbel ließen sie im Kreis drehen. Ein Kokon der Freiheit hatte sich um sie herum gebildet. Das Rauschen des Windes übertönte alles. Melissa verging in ihrer eigenen Welt. Sie glaubte, wie auf dem Spielplatz, vom Wind getragen zu werden.
Wenn sie wieder ihre Arme ausbreitete, könnte sie dann vielleicht fliegen? Einfach wie ein Vogel davonflattern?
Nur unterbewusst nahm sie Blaulicht und Sirene war. Etwas riss an ihrer Schulter und brachte sie wieder in die Realität zurück.

***

Melissas Mutter war außer sich vor Sorge gewesen. Mit offenen Armen hatte sie sie empfangen, als die Polizei sie nach Hause brachte.
Melissa konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Einerseits, weil sie sich nach diesem Gefühl sehnte, andererseits war ihr Vater wiedergekommen. Er war angetrunken und hatte eine halbe Stunde lang widerliche Worte ihrer Mutter an den Kopf geworfen.
Melissa hatte sich ihr Kissen auf den Kopf gedrückt, doch sie konnte dem einseitigen Streitgespräch nicht entgehen.
Ihre Mutter sagte immer nur: „Ja, du hast recht“ und „ Es ist alles meine Schuld, ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.“
Dann war es ruhig geworden. Melissa glaubte, es sei endlich vorbei und legte das Kissen weg.
Kaum hörbar flehte ihre Mutter: „Bitte nicht, bitte nicht!“
Ein Stuhl war umgefallen.
Dann ein „Nein!“ und noch eines. Der Tisch ruckte auf dem Linoleum. Gläser klirrten. Ihre Mutter rief mehrmals den Namen ihres Vaters.
Melissa presste sich ins Kissen zurück.
Schließlich war es wieder still. Dann knallte die Haustür. Und wieder Stille.
Melissa lag mit offenen Augen in ihrem dunklen Zimmer. Zitternd stand sie auf, ging ängstlich zur Küche und spähte langsam um die Ecke. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Ihre Mutter lag mit dem Rücken zu ihr auf der Seite.
Vorsichtig tappste sie mit ihren Puschen über die Glasscherben und presste dabei ihren Teddy an ihren Körper.
„Mami?“, fragte sie zaghaft.
Aber es kam keine Antwort, nur ein leises Röcheln.
Melissa ging weiter auf ihre Mutter zu. Eine Blutlache hatte sich unter ihrem ausgebreiteten Haarschopf gesammelt.
Sie traute sich nicht näher, doch sie musste ihrer Mutter helfen.
Das Mädchen drehte den Kopf ihrer Mutter herum. Wie durch einen Nebel sah sie den geschwollenen Nasenrücken und das Blut, welches aus den Nasenlöchern lief.
Melissa kniete sich in das Blut und bettete den Kopf ihrer Mutter in ihren Schoß. Mit einem Handtuch wischte sie das Blut so gut es ging aus ihrem Gesicht. Dort saß sie eine Weile. Dann legte sie vorsichtig ihren Teddy unter den Kopf ihrer Mutter, ging blutverschmiert zur Nachbarwohnung hinüber und klingelte…

***

Melissa wusste nicht mehr, wie sie aus dem Heim geflohen oder wie sie zum Bahnhof gekommen war. Von dem lebenslustigen Mädchen war nicht mehr viel übrig geblieben. Sie hatte sich jeden Tag mehr in sich zurückgezogen. Sie sprach mit niemandem mehr.
Ihre Mutter lag im Koma, ihr Vater war im Gefängnis. Nähere Verwandte mussten erst ausfindig gemacht werden.
Trotz sehr netter Menschen vom Jugendamt war sie jetzt ganz alleine.
Außer Melissa war niemand auf dem Bahnsteig.
Melissa stand an dem weißen Streifen, der den Sicherheitsbereich markierte.
Ein Güterzug fuhr in gemächlichem Tempo vorbei.
Sie genoss wieder den Wind und die Erinnerung ans Freisein kehrte zurück. Sie machte einen Schritt nach vorn und dann noch einen.
Ihre Zehenspitzen berührten die Kante.

***

Nur die Überwachungskamera war Zeuge, als der Intercityexpress durch den Bahnhof raste. Und ehe er ihn wieder verlassen hatte, war das kleine Mädchen schon verschwunden-

Letzte Aktualisierung: 10.10.2013 - 21.37 Uhr
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