Rausch | Oktober 2013
| Puzzleteile | von Martina Bracke
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Nachdem sie den Lichtschalter betätigt hatte, brauchte sie einige Sekunden, um sich an die Helligkeit im Raum zu gewöhnen. Ihr Blick glitt durch das Zimmer. Schon fing sie an zu würgen. Sie riss die Hand vor den Mund, um diese Körperöffnung zusätzlich zu verschließen. Es half nichts. Zwischen ihren Fingern quoll das Mittagessen, in kleine, feine bräunliche Stückchen zerlegt, hervor. Jeder heftige Versuch, den Mageninhalt zurückzuhalten, machte es nur noch schlimmer. Erste Stücke zwängten sich über den Rachen zur Nase, um sich explosionsartig durch sie zu entladen und gleichzeitig die Luftwege zu verstopfen. Druck legte sich auf ihre Ohren. Sie begann zu husten und gab es auf, den Strom aufhalten zu wollen. Mit aller Macht übergab sie sich jetzt in die Wohnung auf den wollweißen Hochflorteppich. Ihre Hand suchte in der Hosentasche nach einem Papiertuch. Vergeblich.
Sie stürzte ins Bad, spülte den Mund aus, wusch sich Gesicht und Hände, immer wieder. Endlich verharrte sie, den Kopf auf den Wasserhahn gelehnt, die Arme stützend auf dem Waschbeckenrand. Das Wasser ließ sie laufen, in der Hoffnung, dass der Strahl auch ihre Gedanken wegspülen würde. Nach einer Ewigkeit von Minuten drehte sie den Hahn ab, griff nach dem Handtuch und ordnete ihre Haare. In ihrem kleinen bestickten Rucksack suchte sie das Telefon. War der Notruf jetzt 112 oder 110? Und was sollte sie sagen?
Mit dem Finger über dem grünen Telefonhörerbild ging sie zurück ins Wohnzimmer. In dem Hochflor versickerten allmählich die Überreste ihrer Mahlzeit. Den neuerlichen Würgereiz verursachte aber der Rest des Zimmers. Rote Spritzer an den Wänden, glänzende Lachen auf dem Parkett, braune Flecken auf dem Sofa und den Sesseln. Sie zwang sich, vorwärts zu gehen, auf das eine Bein zu, das lose unter dem Couchtisch hervorragte, ohne weiteren Anhang, ihr eine grausige offene Wunde zugewandt. Sie hielt den Atem an. War sie überhaupt allein? Das Blut brauste durch ihre Ohren, aber sonst vernahm sie nichts. Sie atmete aus.
Auf einer sauberen Insel des Teppichs blieb sie stehen. Ihr Magen beruhigte sich. Beinahe analytisch konnte sie alles betrachten. Sie erkannte ihre Wohnung in allen Einzelheiten und machte eine Bestandsaufnahme der Dinge, die neu angeschafft werden müssten, wenn dieses blutige Chaos erst beseitigt sein würde. Wie hießen diese Menschen in diesen Filme? Tatortreiniger? Gab es die wirklich? Standen die im Telefonbuch? Vermutlich konnte sie die Polizei danach fragen. Ach ja, die Polizei.
Ihr Blick fiel wieder auf das einzelne Bein unter ihrem Couchtisch. Gehörte es Maik? Hm. Der Schuh kam ihr bekannt vor. Er zog die Schuhe nie aus, wenn er hereinkam. Und verschmutzte damit ihren hellen Wollteppich. Aber der musste jetzt sowieso erneuert werden, das Blut würde sich nicht entfernen lassen. Vielleicht ist das Parkett zu retten, dachte sie. Dazu würde auch gut ein Nepalteppich passen. Mit der Ledercouch, die sie neulich erst bei Groth um die Ecke im Schaufenster gesehen hatte. Eine afrikanisch angehauchte Stehlampe dazu? Sie könnte auch endlich die Bilder austauschen, die jetzt schon drei Jahre an den Wänden klebten. Ein neues Wohnzimmer erstand vor ihren Augen, rein, harmonisch aufeinander abgestimmt, ohne hässliche Flecken, Spritzer und Schuhabdrücke von eingebildeten Männern, die meinten, ihre Riesenboxen neben dem Sofa platzieren zu müssen. Waren sie ein Status- oder ein Phallussymbol? Wegen der Nachbarn konnten sie sowieso nie voll aufgedreht werden.
Aber das war ja jetzt vorbei. Mit Maik musste sie sich nicht mehr quälen, und seine Spuren würden auch bald beseitigt sein. Wo nur war der Rest, der zu dem Bein gehörte? Sie drehte sich auf der Stelle und suchte nach weiteren Einzelteilen. Im Bad war nichts, das wäre ihr aufgefallen. Vielleicht in der Küche in der Tiefkühltruhe? Dann könnte sie das Gerät endlich auch gegen ein energieeffizienteres tauschen. Die Balkontür stand ein kleines Stück offen. Und das bei beinahe null Grad. Sie wollte schon darauf zugehen und sie schließen, aber dazu hätte sie vorsichtig an einigen Lachen vorbeibalancieren müssen.
So blieb sie lieber auf ihrer Insel und wandte sich dem Rest des Zimmers zu. Ihr Blick fiel auf die vielen exklusiven Papiertüten, die den Eingang versperrten. Langsam setzte sich ein Bild der Ereignisse in ihr zusammen.
Sie seufzte.
Ihr Einkauf sah teuer aus. Auch im Kleiderschrank musste ausgemistet werden. Ach ja, Maiks Sachen konnte sie jetzt aussortieren.
Sie lächelte.
Dann bahnte sie sich doch einen Weg durch das blutige Labyrinth. Es half ja nichts. In der Küche sandte sie der Tiefkühltruhe keinen Blick, suchte einen Schraubenzieher. Schraubendreher. Maik war bei sowas sehr genau. Unter dem Waschbecken fand sie noch einen in der Werkzeugkiste. Einiges von Maiks Werkzeug war verschwunden, doch die Kiste sah trotzdem ordentlich gefüllt aus. Mehr nach weiblichem Zweckwerkzeug, als nach männlicher Hobby-Handwerkerschaft. Das würde nicht auffallen. Mit dem Schraubendreher schritt sie durch die Wohnungstür, schloss sie von außen und brach sie mit einiger Mühe auf. Das Objekt ließ sie zu ihrem neuen Kaschmirpulli in die Einkaufstüte gleiten, dort würde niemand suchen. Sie erinnerte sich auch an das übrige Werkzeug, dass sie auf ihrem Weg in die Stadt in verschiedenen Müllcontainern entsorgt hatte. Mehrere Schraubendreher, Holz- und Eisensägen, die sie dank Maik gut auseinanderhalten konnte. Auch die Tüte mit den blutigen Kleidungsstücken hatte sie weit weg verschwinden lassen.
Sie wählte die Nummer der Polizei, 110.
„Polizei-Notrufzentrale. Engelbrecht, was kann ich für Sie tun?“
„Sie müssen mir helfen, er ist tot, oh Gott, ein Bein, der Rest – vielleicht auf dem Balkon, die Tür ist offen, es ist alles rot, so rot – wo es weiß sein sollte, mir, ich, ich war nur, nur ein paar Stunden einkaufen. Ich, mir, mir wird schlecht ...“ Sie würgte.
„Bleiben Sie ruhig, geben Sie mir die Adresse, wir kommen.“
In ihrer Jugend war sie der Star ihrer Schauspielgruppe.
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Letzte Aktualisierung: 27.10.2013 - 20.29 Uhr Dieser Text enthält 6089 Zeichen. www.schreib-lust.de |