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Rausch | Oktober 2013

Der menschliche Faktor
von Klaus Freise

Wenn man dem Menschen seine unbedeutende Nichtigkeit aufzeigen wollte, dann gibt es keinen besseren Ort als das Weltall.
Kein Tag und keine Nacht. Kein Oben und kein Unten. Keine Luft und kein Leben. Nur ein unendliches tiefes Nichts.
Milo erwachte.
Dabei hatte er nicht wirklich geschlafen. Alle drei Tage initiierte Milo einen Neustart, um die riesigen Datenmengen zur Erde zu senden und seinen Speicher zu reinigen. Doch bei all den Daten, die in einer Sekunde sämtliche Bibliotheken der Menschheit hätten füllen können, blieb ein Cluster in seinem Speicher belegt.
Dieser Cluster enthielt immer die gleiche Information.
Diese Information reifte in Milo zu einer Erkenntnis.
Milo war allein.

Erde. Ground Control. Der „Glaskasten“.
Steve Hanson stand über dem halbkreisförmigen Raum und blickte durch eine Fensterfront auf den mit Computern und metergroßen Bildschirmen gefüllten „Ground Control“.
Mit seinem Headset war er jederzeit mit einem der hundertfünfzig Mitarbeiter verbunden. Hinter ihm saß sein Stellvertreter Al Hinkley.
Ohne sich umzudrehen sagte Hanson:
„Seit wann kommt dieses Signal rein, Al?“
Hinkley schaute konzentriert auf seinen Monitor.
„Seit einer Stunde und elf Minuten, seitdem alle zehn Minuten. Aber es ist eigentlich kein definiertes Signal, eher ein … äh, Wort.“
Hanson drehte sich um. „Ein Wort? Was für ein Wort?“
„Wartung. Er sendet nur dieses Wort. Wartung. Aber jetzt kommt’s“, Hinkley sah von dem Bildschirm auf. „Vor einer halben Stunde ist sein Solarmodul ausgefallen.“
Hanson ging um den Tisch herum und starrte neben Hinkley auf die Daten.
„Was ist denn das für ein Scheiß? Wie kann er denn plötzlich Worte senden?“
Hinkley zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.
„Hör zu Steve, ich mache das jetzt genau wie du seit zwölf Jahren, aber so etwas habe ich auch noch nicht erlebt.“
Seufzend ließ Hanson sich auf einem Ledersessel nieder und griff zu einer Kaffeekanne, die neben einem Teller Gebäck und einer Milchdose stand.
„Schön. Ganz toll, Al“, er goss sich eine Tasse voll. „Was ist Milo noch mal wert?“
Hinkley schob seine Tasse rüber. „Mir auch noch was. Also rein materiell würde ich sagen, mit Kickoff ins All, circa 1,3 Milliarden.“
Hanson nippte an seinem Kaffee. „Und für wie lange hat er noch Saft, ich meine jetzt ohne das Solarmodul?“
Hinkley lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Naja, wenn er nicht weiter sendet, vielleicht noch sechsunddreißig Stunden.“
„Hm … also 1,3 Milliarden … seit sieben Jahren im All, du weißt ja, Al, die Kiste hat ihr Geld längst eingespielt. Wir lassen ihn da oben, bis ihm der Saft ausgeht.“
„Da gibt’s nur ein kleines Problem, Steve.“ Al Hinkley schnippte mit dem Finger gegen den Bildschirm. Dort blinkte eine rot hinterleuchtete Textzeile.
Steve Hanson beugte sich vor. „Scheiße, Pentagon, Sondercodierung.“ Wütend knallte er den Becher auf den Tisch. „Gibt es denn irgendeine Dose im All, an der diese Militär-Fuzzies mal kein Interesse haben?“
Hinkley griff zum Telefon und murmelte:
„Na schön, dann machen wir Milo mal wieder flott.“

Ein Reparaturshuttle war mit dem sowjetischen Kosmonauten Dimitri Asimov und dem Amerikaner Stan Culik bemannt worden. Der Transportkran hielt Milo stabil an dem Shuttle.
Von Ground Control wurde jeder der beiden mit einem Team aus Technikern und Psychologen betreut. Der Ärztin Natasha Covin fielen die Veränderungen an Stan Culik als erste auf.
„Sir, das sollten Sie sich mal ansehen.“
Steve Hanson sprach mit der Ärztin über sein Headset.
„Ich hoffe es ist alles in Ordnung mit Stan, er ist auf dem Weg zur Luftschleuse, um das Solarmodul neu zu initialisieren.“
„Ich habe hier in seinen Biodaten etwas gefunden, ich lege es Ihnen auf den Bildschirm.“ Natasha drückte einige Tasten und Sekunden später hatte Hanson oben im Glaskasten alles auf seinem Monitor.
Hanson winkte Al Hinkley zu sich. „Was hältst du davon, Al? Sein Stickstoff-Gehalt im Blut ist über dem Normalwert.“
„Selbst wenn, Steve, er ist noch im grünen Bereich.“ Hinkley wedelte mit der Hand über das Diagramm. „ Wenn er jetzt nicht bald rübergeht, gehen bei Milo in zwei Stunden die Lichter aus, und du weißt ja, wer dann sauer wird.“
„Ich weiß, aber …“ Hanson fragte Natasha: „Okay, was kann ihm schlimmstenfalls passieren.“
Die Ärztin räusperte sich: „Also, er könnte bei zu hoher Stickstoffkonzentration in einen unkontrollierten Rausch fallen, ähnlich wie bei einem Taucher im Tiefenrausch. Es äußert sich häufig in einer euphorischen Stimmung. Die dann aber schnell zu Bewusstlosigkeit und Tod führen kann.“
Hanson schüttelte den Kopf. „Zu riskant, Al, vielleicht sollten wir warten, bis sich Stan stabilisiert hat.“
Hinkley schüttelte den Kopf und drückte einen Knopf an seinem Headset. „Danke Doktor Covin, behalten Sie die Daten weiter im Auge, sobald es kritisch wird, brechen wir ab, vielen Dank, Hinkley, Ende.“
„Hör zu Steve, jetzt oder nie. Stan schafft das schon. Gib grünes Licht, Steve.“
Nach einer Weile beugte sich Steve Hanson, Chief of Ground Control, über ein Tischmikrofon.
„Hanson an Ground Crew, bereitmachen für Operation Milo-Restart. Wir haben T minus zwei Stunden.“

Stan Culiks Helmkamera zeigte ein beeindruckendes Bild. Die von grauen Wolkenflächen teilweise verdeckte blaue Kugel der Erde. Eingebettet in ein Sternenmeer, das aus der unendlicher Tiefe des Alls hervorstach. Im Vordergrund sah man den Ladekran des Shuttle. Klein und verloren zwischen den Halteklammern steckte der Nachrichtensatellit Milo.
„Stan, hier spricht Steve Hanson, ich weise Sie kurz ein. Al wird die Technik übernehmen. Natasha überwacht Ihren Biorhythmus, und Dimitri achtet von der Luftschleuse aus auf Ihr Versorgungsschlauchpaket. Wie fühlen Sie sich, Stan?“
„Alles okay, Sir. Es sieht großartig aus, können Sie das sehen, Sir.“
„Ja, Stan, immer wieder ein beeindruckender Anblick. Wir haben zwei Kameras am Ausleger und eine weitere am Shuttle. Außerdem noch Dimitris Helmkamera. Okay, Stan, ich übergebe jetzt an Al.“
„Hallo Stan, jetzt kommt gleich der schwierige Teil. Stoßen Sie sich von der Schleuse ab, und halten Sie sich an dem Halterahmen für das Solarmodul fest.“
Aus den Lautsprechern des Ground Control waren Stans Atemzüge zu hören, als er sich abstieß. Sekundenlang hielten alle den Atem an. Dann war ein grunzendes Geräusch zu hören, als Stan an die Halterung prallte.
„Ich hab es, alles klar“, keuchte er.
Natasha runzelte besorgt die Stirn, als sie sich meldete „Okay Stan, versuchen Sie wieder gleichmäßig zu atmen … ja, so ist es besser.“
„Hier ist wieder Al, Stan. Ich spiele Ihnen jetzt auf Ihren HUD-Schirm die Bilder der Wartungsklappe, sagen Sie mir, was Sie sehen.“
„Alles klar, Sir, ich hangele mich am Modul zur Klappe und löse die manuelle Verriegelung. Einen Moment.“
„Kein Eile, Stan, Sie haben alle Zeit der Welt.“ Bei diesen Worten drehte sich Al Hinkley zu Hanson um. „Wie viel Zeit hat er noch, Steve?“
„Alles im grünen Bereich, noch T minus sechzig Minuten, Al.“
Langsam zog sich Stan an dem Modul dichter an Milo heran. Dann kniete er vor der Klappe und begann die Verriegelung zu lösen.
„Sehr gut, Stan, wenn Sie die Klappe geöffnet haben, kommen noch zwei Isolierungstafeln. Die schieben Sie beiseite und lösen auf beiden Seiten die Halteklammern. Soweit verstanden, Stan?.“
Zwischen zwei Atemzügen schnaufte Stan: „Ja, Sir… die Klammern lösen und dann?“
„Hier Natasha nochmal. Stan, versuchen Sie langsamer zu arbeiten, atmen Sie ganz ruhig, Stan.“
Natasha drückte einen Knopf an ihrem Headset. „Sir, sein Stickstoff-Wert nimmt dramatisch zu, ich schlage vor, wir brechen ab.“
„Danke Doktor, wenn er die Verbindungsleitung angekoppelt hat, holt Dimitri ihn rein. Maximal noch neunzig Sekunden.“
„Okay, Stan, Sie machen das sehr gut. Vor Ihnen ist jetzt die zentrale Versorgungseinheit von Milo. Sie nehmen das Kabel von Ihrem Gürtel, nehmen die Schutzkappe ab und stecken den dreipoligen Stecker in die Einheit. Dann drehen Sie den Bajonettverschluss im Uhrzeigersinn und das wars. Dann ist Milo mit dem Shuttle verbunden und wir starten von hier aus das Solarmodul neu.“
"Okay, die Verbindung steht, ziehen Sie ihn rein, Dimitri." Im selben Moment bekam Al Hinkley von seinen Technikern eine Meldung, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb.
„Sir, Milo zieht zu viel Strom aus dem Shuttle. Außerdem habe ich wieder eine Meldung von Milo." Auf dem vier Meter großen Zentralmonitor stand nur ein einziges Wort.
>Endlich<
Al Hinkley schüttelte den Kopf, als Hanson ihn fragend ansah. "Ich habe keine Ahnung, wie er das macht, Steve."
Sekunden später fielen die Kameras am Shuttle aus. Nur die Helmkamera lief noch.
Jetzt schienen Stans Atemzüge überlaut aus den Lautsprechern zu drängen.
"Das ist unglaublich, Sir. Das Licht fühlt sich ganz weich an, es ist wunderschön." Die Helmkamera zeigte seine tastenden Hände.
"Wovon redet er, Steve? Da sind zwar ein paar Leuchtdioden, aber kein Licht." "Stan, können Sie mich hören, Stan?"
"Ich kann ihn nicht reinziehen", Dimitris Stimme überschlug sich. "Der Ladekran öffnet seine Halterungen, ich habe keine Kontrolle mehr über die Shuttlefunktionen !"
Natasha Covin schlug die Hand vor den Mund. "Mein Gott, wir verlieren ihn, holen Sie ihn zurück."
Tatenlos musste Dimitri mit ansehen, wie die Verschlüsse der Versorgungsschläuche vom Shuttle aufschnappten und die Schlauchenden unkontrolliert durch das All zuckten.
Milo war frei.
Langsam trieb Stan Culik auf dem Satelliten vom Shuttle ab.
Im Cround Control hämmerte Steve Hanson verzweifelt auf seine Tastatur.
"Stan, hören Sie mich? Sie müssen sich umdrehen. Stoßen Sie sich ab. Stan?"
Stan Culik rührte sich nicht. Alles um ihn schien warm zu leuchten. Er dachte an zu Hause.
Seine Frau, Kate, er wollte sie ... der Hund, wie hieß nochmal der verdammte Hund? Boomer, richtig ... ein Collie ... ein Geschenk für seine Tochter Marie ... er würde ihr noch eine Geschichte vorlesen ... heute Abend ... über ihr Haar streichen ... bevor sie einschlief.

Milo war nicht allein.




Version 2, Klaus Freise

Letzte Aktualisierung: 17.10.2013 - 20.04 Uhr
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