Der Tod aus der Teekiste
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Metamorphose | November 2013
Einmal im Jahr
von Susanne Ruitenberg

Ich bin nicht die Jüngste, nicht hypermodern, nicht besonders groß.
Weiter zu wachsen, vermag ich nicht.
Und doch kann ich, bei aller höflichen Bescheidenheit, nicht umhin, auf meine Einzigartigkeit hinzuweisen.
Ja, einzigartig bin ich, das ist das treffende Wort.
Nicht wegen meines Alters, nein.
Zugegeben, die Feier zu meinem 1250. Geburtstag war wunderschön. Dabei verdanke ich sie nur einem glücklichen Zufall. Nämlich, dass man den heiligen Bonifatius damals, im Jahr 754, genau hier vom Schiff getragen, auf ein Fuhrwerk umgeladen und das Ganze auch noch urkundlich vermerkt hat.

Es ist nicht aufgrund meines Aussehens.
Neben einigen Bauwerken, die man nur als architektonische Megapannen bezeichnen kann, gibt es viele, viele Stellen in mir, die bröckeln und bröseln wie ein Sandkuchen, der zu lange in der Sonne gelegen hat. Es tut mir in der Seele weh, das zu sehen. Leider hat man kein Geld, das zu beheben, was mich zutiefst betrübt.

Es ist nicht wegen meines Inhalts.
Ja, ich habe einen recht passablen Gewerbemix, nette Läden, Schulen, Ärzte und was man sonst an Infrastruktur anbieten sollte heutzutage. Hierin unterscheide ich mich nicht von Kolleginnen vergleichbarer Größe. Was mich ein wenig von ihnen abhebt, sind meine gepflegten Rebflächen und meine hervorragenden Winzer, aber damit bin ich nicht die Einzige in der Nachbarschaft - und dass hier die erste Sektkelterei Deutschlands stand, hat heute fast keine Bedeutung mehr.
Nein, all das ist respektabel, ohne Zweifel. Als ehrliches Wesen möchte ich auch nicht das Negative verschweigen. Ein Blick durch die rosarote Brille hat mir noch nie gefallen. Der Krach und Gestank der Flugzeuge, die machen mir alten Dame schwer zu schaffen und meinen liebenswürdigen Einwohnern das Leben zur Hölle. Da können sie, die sonst friedlich, hilfsbereit, kreativ, vielseitig begabt und fast immer gut gelaunt sind - besonders, wenn es etwas zu feiern gibt - sogar richtig rabiat werden.

Sie, die mir bis hierhin gefolgt sind, denken sicher: na, das klingt nach einer langweiligen, betulichen Kleinstadt.
Ihre Meinung sei Ihnen gegönnt.
Einmal im Jahr jedoch, da erwache ich aus meinem Dornröschenschlaf.
Einmal im Jahr, da ist alles anders, da stehen alle Kopf. Nein, ich meine nicht die fünfte Jahreszeit, haben Sie das gedacht? Naheliegend, mit der Helau-Hochburg so nah, aber falsch geschlussfolgert.
Ich rühme mich einer Sechsten.
Einer, die niemand sonst hat.

Einmal im Jahr, da passiert etwas mit mir. Ich bin weltberühmt dafür und statt meiner bescheidenen knapp zwanzigtausend Einwohner habe ich dann Hundertausende!
Es fängt ganz langsam an. Im Oktober, wenn die Blätter sich verfärben, die Winzer ihre Trauben hereinholen und alles voller Fruchtfliegen ist, da beginnt das Kribbeln. Eine kollektive Vorfreude verbreitet sich unter meinen Menschen. Wie ein Lauffeuer. Kaum sind die Gespräche über die Qualität dessen, das sie »Lese« nennen, abgeklungen, da taucht ein Wort immer öfter auf. Wie bei Kindern, wenn sie von Weihnachten reden. Das Wort, das sich in die Gedanken und Unterhaltungen einschleicht, zunächst behutsam, stets häufiger, ist ein ganz alltägliches. Es bezeichnet normalerweise etwas Banales, das jede Woche stattfindet, bei unzähligen Kolleginnen.

Bei mir hat es einmal im Jahr eine eigene Bedeutung.
Ich merke sofort, dass es losgeht. Die ersten Lastwagen rollen heran, bringen große Bauteile aus Metall in kreativen Formen und Farben. Wohnwagen und Verkaufsstände besetzen meine Freifläche und die umliegenden Straßen. Einzelne, verstreute zunächst, es folgen viele weitere, wie Pilze schießen sie aus dem Boden. Wenn mein alter Freund Eddy da ist und das riesige Zelt aufbaut, möchte ich vor Freude hüpfen und tanzen, denn nun dauert es nicht mehr lange.
Aus technischen Gründen darf ich das leider nicht.
Meine lieben Anwohner würden sonst aus ihren Häusern purzeln, und das will ich natürlich vermeiden.
So bleibe ich still liegen und gucke zu. Beobachte, wie die Männer vom Bauhof, die sonst meine Rasenflächen kämmen, meine Blumen pflanzen und gießen, wie sie die Stromkästen und Wasseranschlüsse aufstellen. Schaue den Fremden zu, die alle erdenklichen Sprachen sprechen, wie sie die bunten Metallteile zusammensetzen mit halsbrecherischen Kletteraktionen. Wie sie Wagen aufbauen und farbenfrohe Sachen hineinpacken, manche der Dinge riechen richtig lecker und es ist schade, dass ich sie nicht kosten kann - obwohl, es fällt davon bald so viel auf mich hinab, dass ich doch mitbekomme, wie das alles schmeckt.

Ich kenne die Menschen, die anreisen, die meisten seit Jahren. Am liebsten würde ich sie begrüßen, leider verstehen sie mich nicht. Beinahe könnte ich ihnen die Plätze zuweisen, so gut begreife ich die Anordnung - aber jedes Mal sind auch ein paar neue dabei und andere, vertraute, kommen nicht mehr.

Dann ist es so weit.
Das große Zelt füllt sich. Mit meinen normalen Einwohnern und mit vielen von den vorübergehenden Mitbürgern. Sie halten eine Zeremonie ab. Gottesdienst nennen sie es. Das machen sie sonst in meinen drei hübschen Kirchen, richtig feierlich, aber hier mit den Bierzeltgarnituren, da ist es außergewöhnlich. Einmal, weil sie alle durcheinander sitzen. Ureinwohner, die Temporären, die, die sich bekreuzigen und die, die es nicht tun. Sie singen und sind glücklich und voller Vorfreude, und vorne, am Eingang, da duftet es bereits nach Kaffee und den ersten Brathähnchen. Nach der Zeremonie gehen sie hinaus, meine Chefin und meine Weinmajestäten halten kurze Reden, die Chorgeister machen Blasmusik.
Schließlich folgt der große Moment, auf den wir alle gewartet haben: Es knallt fünf Mal und meine Chefin sagt die magischen Worte. Wenn sie die gesagt hat, bin ich keine beschauliche Kleinstadt mehr.
Oh nein, dann bin ich bunt, fröhlich, voller Lichter und Musik. Die Leute schieben sich durch die Gassen, kaufen die tollen Dinge, die in den Wagen liegen. Immer wieder treffen sie Bekannte, umarmen und unterhalten sich, trinken den Wein und den duftenden Glühwein, prosten sich zu. Manche zu sehr, das muss ich leider zugeben und zum Glück gibt es so rot gekleidete, die in dem Fall helfend zur Seite stehen.
Sie essen von den Köstlichkeiten und kaufen Naschwerk für daheim. Kinderaugen strahlen, es ist ein Gejohle und Gekreische auf den farbenfrohen Fahrgeschäften, die sich drehen, hoch und schnell und die Menschen durch die Luft wirbeln. Fünf Tage dauert das wilde Treiben. Besonders gern schaue ich in der Mitte zu, im Bereich, den sie historisch nennen, mit den lustigen Feuern und dem Badezuber, dort dufte es herrlich nach Rauch, Honigwein, Spanferkel, Backwaren aller Art.

Am liebsten bin ich natürlich vorne bei den Tieren. Der Viehmarkt ist schließlich der Teil, der meine sechste Jahreszeit verursacht hat. Und, so möchte ich bei aller mir angeborenen Bescheidenheit betonen, der darüber hinaus der älteste in Deutschland ist!
Wenn das kein Grund ist, stolz zu sein!
Was die magischen Worte sind, die meine Chefin spricht? Haben Sie es nicht erraten, trotz all der Hinweise?
Ich will mal nicht so sein. Sie lauten:
»Der Hochheimer Markt ist eröffnet!«


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.11.2013 - 16.00 Uhr
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