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Metamorphose | November 2013

Vollversammlung
von Helga Rougui

O. steht vor dem Spiegel, mit dem vor Zeiten alles Unheil begann. Sie dreht sich, begutachtet ihre stählerne Taille und ihren glitzernden Panzer. Sie schrappt mit ihrem multicoloren Diamantfingernagel über die eingefrästen Abwehrrunen. Solider Schutz, undurchdringlich für jeden abgeschossenen Abendpfeil und jeden Morgenstern, so heftig er auch geschwungen würde. Und trotzdem – das, was er beschützt, ist es beschützenswert?
Jahrhundertelang hat O. sich selbst und allen weisgemacht, ihr Inneres sei ein kostbarer Perlenschrein, angefüllt mit unersetzlichen Juwelen und teuerstem Geschmeide, nur um dann am Ende festzustellen, daß ihre Seele ein Korb voll grüner knackiger Äpfel ist.
Sie atmet aus.
Und wieder ein. So tief es geht. So sehr, daß sich ihr Brustumfang um ein Mehrfaches vergrößert und ihr Schild von ihr abplatzt wie die Schale einer überreifen Frucht.
Die Hülle aus hartem glänzendem Horn fällt zu Boden.
Sie steht da in ihrer runzligen Nacktheit, ungeschützt.
Und harrt der Dinge, sehr gelassen, die da kommen mögen.

K. betrachtet den leeren Koffer, dessen Inneres noch mit den unsichtbaren Spuren seiner Besitztümer angefüllt scheint, und ihm wird bewußt, daß es Zeit ist, sich von den Resten, die ihm selbst noch anhaften, zu trennen. Kleidung besitzt er schon lange nicht mehr, aber auch jedes Haar, aus dem sein dichter Pelz besteht, ist ihm beschwerlich und eine Last. Er reckt den Hals und faßt in die Mulde unter seinem Kinn. Seine Schnurrhaare zittern angestrengt, als er die gut versteckte Lasche des Reißverschlusses ergreift und langsam nach unten zieht, so langsam, wie man eine Spritze in pralles Fleisch entleert. Zentimeter für Zentimeter öffnet sich sein Fell und schält sich von ihm ab wie die Rinde einer braunfleckigen Fichte, bis es sich am Boden zusammenfaltend um seine Pfoten knüllt. Er steigt hinaus aus seinem Kokon und tritt erwartungsvoll einen Schritt nach vorn.

Wenn einer keine Beine hat, kann er sie nicht verlieren, meint M., der nie Beine hatte. Hat ihn das je gestört? Hat er nun darum andere Vorzüge? Nicht notwendigerweise. Seine Eigenschaften mögen ihm Freude bereiten, aber gereichen sie der Allgemeinheit zum Vorteil? Und was wäre, wenn nicht? Er hat sich die Frage nie gestellt. Er weiß es nicht, aber er ist der Lösung am nächsten.
Und V., der beschlossen hat, das Leben seiner Mitmenschen nicht in einen ewigwährenden kalten Schatten zu verwandeln – kann er Dankbarkeit erwarten für diese seine Rücksichtnahme? Die lediglich geboren wurde aus seiner persönlichen tiefen Abneigung gegen Menschenblut und seiner Vorliebe für Tomatensaft? Nicht sein Verdienst demnach diese gute Tat? Aber ist das wirklich entscheidend?
Z., die Synthese dieser beiden Entitäten, schweigt, denn sie speist sich nur aus den aufsteigenden Antagonismen und wäre ohne sie ein Nichts, und sie weiß, daß sie im Grunde nichts anderes ist als dies und nichts anderes sein will als dies. Sie greift nur ein, um zu vermitteln, was sich meist als wirkungslos herausstellt.
Ein Trio, auf unbeholfene Weise handlungsunfähig, aber unzertrennlich.

Zuletzt H., das ebenfalls der Gesellschaft angehört. Es hat nie gelernt, sich zu artikulieren und somit auch nicht, für sich zu sprechen. Es flattert kopflos und ungeerdet ohne Plan durch den Sturm, der es ohne viel Umstände seiner Federn entkleidet. H. verspürt vage Dankbarkeit ob dieser wertvollen Hilfe, die es dringend benötigt. Es ist bekannt, daß es nicht nur nicht fliegen, sondern auch sonst nichts kann.

Alle sind nun bereit.

Wie weitermachen, wenn man sich von einem auf den anderen Moment aller bisher gewonnenen Einsichten entledigt und sich völliger Freiheit ungehemmt anheimgibt?
Wenn man laut schreit: "Dazu habe ich keine Lust!", wenn man zu etwas keine Lust hat – und es einem egal ist, ob die Welt es hört oder nicht oder es versteht oder nicht oder akzeptiert oder ablehnt?
Kann man, darf man leben ohne Richtlinien, Idole, Rücksichten? Ohne Pläne, Projekte, Strategien? Ohne Stärke, Disziplin, Durchhaltevermögen?
Darf man, kann man aus sich heraus, nur durch die eigene Grenze definiert, existieren?

Sie sind allesamt unsicher. Sie sind zu sehr gewöhnt an die Verfolgung allgemeingültiger Träume. Also drängen sie sich aneinander, um sich zu trösten. Aus sechsfacher Kälte entsteht eine vage Ahnung.
Sie nehmen ihre Plätze ein.
Was könnte sie voranbringen, sie, die nun um das Zirkusrund sitzen und auf die Kämpfe warten - um sich erneut ein Beispiel zu nehmen? - und auch diesmal wieder aus Angst?

Überraschung. Es wird keine Kämpfe geben.
Stattdessen wird eine große Ruhe eintreten.
Kein Rennen mehr, kein Flüchten.
Keine Flucht nach vorn.
Eine Rettung wird nicht nötig sein.
Die Hatz ist vorbei.
Es wird keine Unterlegenen mehr geben, und alle Gefangenen sind schon längst befreit.
Die Treiber haben ihre Peitschen beiseitegelegt.

Stille kehrt ein.
Das Tor zu den unterirdischen Gewölben der Vergangenheit wird jetzt geöffnet –
Nein, es wird nicht geöffnet.
Ein Raunen geht durch die Gesellschaft. Erstaunen. Verwirrung.
Die Ballerina verneigt sich und tanzt eine kleine Abfolge von Schritten.
Das Tor bleibt geschlossen.
Was war, mag friedlich seinen Platz in der Dunkelheit behaupten. Es ist nicht wichtig für die Gegenwart.

Der Clown tritt auf durch die Seitentür. Sein eiförmig gemalter blutroter Mund verzerrt sich zu einem gigantischen Lächeln, das wie immer mißlingt. Er trauert nicht. Er weiß, daß die Dinge sind, wie sie sind.
Der Riese, der ihm folgt, trägt eine Plastiktüte mit unzähligen Töpfen, die angefüllt sind bis zum Rand mit den Farben des Regenbogens.

Alle Töpfe werden ausgekippt und unaufhörlich fließen daraus Wasser und Feuer, Tränen und Lachen, leuchtende Lava und glühende Sonnenblumen.
Der Pegel steigt.
Das Bad ist bereitet.
Die Oberfläche schillert in Flamme und Schnee, in Glut und Eis.
Alle schauen sich an. Schauen auf den sich still kräuselnden Farbenspiegel.
Alle spüren plötzlich, wie ihre Haut prickelt.

Der Zirkusdirektor hat das Sprungbrett aufgebaut.

Werden sie es wagen?
Und du?

Letzte Aktualisierung: 10.11.2013 - 22.00 Uhr
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