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Metamorphose | November 2013

Hein, aber nicht blöd
von Glädja Skriva

Die Tür schwang in den Angeln. Jungfräulich. Und Hein lehnte das erste Mal den rostigen Schirmständer, Marke 50iger Jahre, vorsichtig gegen sie. Noch etwas zögerlich, aber doch mit einem tiefen Atemzug, um die frische Nordseeluft zu inhalieren, die sich stürmisch hereingedrängt hatte ohne zu fragen, ob sie willkommen geheißen war oder nicht.
Heins Gesicht rötete sich leicht. Seine Stirn, seit letztem Jahr stark verlängert, zeigte ein zartes Rosarot. Einen Hauch von Lebendigkeit, die jedoch sofort ausgebremst wurde, als er seine Hände an dem gestärkten, mausgrauen Kaufmannskittel abstreifte, den er jeden Morgen, wenn er den kleinen Laden betrat, überzog und bis zum letzten Knopf am Hals gewissenhaft verschloss.
Seine Mutter hatte es ihm gut eingeimpft mit ihrer zerbrechlichen Gestalt und ihrer leisen Stimme, die so gar nichts Dominantes hatte und der er sich deshalb gerne beugte: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, mien Jung.“
Damit bestand sein Vergnügen aus dem sonntäglichen Gottesdienstbesuch ebenso wie aus dem Malen der Preisschildchen, die das edle Ostfriesengeschirr in seinem kleinen Kaufmannsladen noch mit DM-Preisen auszeichneten und genauso milchig wirkten wie seine Haut, die selten ein Sonnenstrahl traf. Außer, wenn er abends bei Mutter vorbeisah. Auf dem Friedhof. - Sie war letztes Jahr leider verschieden. – Aber auch dort konnte er sich Rat dazu holen, wie er die kräftige Ostfriesenhausteesorte zu mischen hatte, dass sie nicht bitter wurde im Geschmack weit über die vier Minuten des Ziehens in der angewärmten Kanne hinaus.
So kam es, dass Hein in diesem kleinen Küstenbadeort bald als Rarität bei den Touristen gehandelt wurde wie die Seehunde auf den vorgelagerten Sandbänken, die ihre Hüften in die Planken stützten. Er, mit seinem Tante-Emma-Laden, seinem edlen Tee, seinen Preisschildchen – und seinem Jahrhundertmief.

Wenn die Kutter bei Ebbe nicht zu den Seehundbänken hinausfahren konnten, kamen sie nun in Scharen zu Hein in den Laden. Meist Touristinnen mit einem großen Wanderrucksack auf dem Rücken und einer beigen Regenjacke, hier oben bei diesem Shietwetter in Partnerlook mit ihren trauten Ehemännern gekauft, die gerne bei einem Kurzen in der „Boje“ am alten Hafen zurückblieben. Während die Frauen die Luft der guten alten Zeit schnuppern und den Laden mit einem kleinen oder auch etwas größeren Einkaufstäschchen voller Mitbringsel verlassen wollten. Denn hier bei Hein hatte man alles „all inclusive“: die holzstichigen Möbel, das Flair vergangener Zeiten, in denen die Welt noch in Ordnung war und den Charme eines Mannes, der die Formvollendung früherer Kavaliere aufwies. Jede Kundin bediente Hein freundlich und zuvorkommend mit der gleichen Aufmerksamkeit; selbst, wenn sie wie eine Gänseschar mit wackelndem Hintern nacheinander in den Laden eingefallen waren und dabei durcheinander schnatterten:

„Könnetse mir einmal sage, wie das genau funktioniert, mit dieser Teezeremonie?“
Oder: „Das macht ja mol garnix, dass du nur oi Sort Tee hasch. Dös basst scho!“
Bis zu: „Könnten Sie mir Auskunft darüber geben, ob es nun „Moin, moin“ oder nur „Moin“ bei der Begrüßung heißt? Ich habe gehört „Moin, moin“ würde ein, nun ja, verunzierendes Wort bedeuten. Sehen Sie das auch so?“

Dazwischen sah Hein auf. Zu Ole, der seine Nase an seiner Ladenscheibe plattdrückte und seinen Mund Karpfenartig wie die Damen öffnete, rundete und wieder schloss. Nach Feierabend, auf dem Nachhauseweg, würde Ole ihm sicher wieder nach so einem Tag kräftig auf die Schultern klopfen, fröhlich pfeifen und dabei etwas von „Weiber-Plattfisch-Fanclub“ brummen.

Dennoch, auch an diesem Abend schloss Hein mit einem freundlichen „Moin, moin“ die Tür hinter seiner letzten Kundin und, nein, er seufzte nicht dabei. Er atmete gleichmäßig weiter. Ein und aus – sein ganzes unaufgeregtes Leben lang.
Es hätte immer so weitergehen können, dass er weder besonders glücklich noch besonders unglücklich war, wenn da am nächsten Morgen seine Ladentür nicht mit Schwung aufgeflogen wäre, die er doch so gerne hinter seiner kleinen, friedlichen Welt schloss. Der Schirmständer schepperte und er duckte sich automatisch ein klein wenig hinter den Scheiben seiner hohen Theke vor dem klaren, frischen Wind, der hereinwirbelte.

„Hi!“

Hein schien etwas verwirrt über den überraschenden Besuch. Schließlich war es Flut und die Zeit der Kutterausfahrten zu den Seehundbänken war angesagt.
„Moin“, hielt sich Hein an seiner üblichen Begrüßungsformel fest und strich dabei zart seine große, blaue, blecherne Teedose unterhalb des Tresens, zu der er sonst nur nach Feierabend griff, um den Tag mit einer gemütlichen Tasse Tee auf seinem Ostfriesensofa abzurunden. ( Er saß immer nur auf der rechten Seite. Bei der linken Seite, auf der früher Mutter saß, war die Feder gesprungen. Sie hatte etwas über die Jahre gelitten).
In einem für ihn ungewöhnlichen Redeschwall eröffnete er das Gespräch: „Sie möchten sicher etwas über die Teezeremonie in Ostfriesland wissen?“ Er räusperte sich, bevor er ein kratziges „Ne?“ anschloss.
Der Haarfeuerball ihm gegenüber, dieses Mal ohne Rucksack, dafür mit weitem, schlabbrigen Pullover in bunten Regenbogenfarben ließ die Worte munter wie kleine Tischtennisbälle über die Theke zu ihm hinüberhüpfen:
„Mit Kandis, der knistert. Darf ich einmal an dem Tee riechen?“
Hein streichelte immer noch sanft die Teebox, aber hätte man ihn darauf aufmerksam gemacht, hätte er es vehement von sich gewiesen. Nur ein leichter Lotusduft erreichte seine feine Nase. Das lag wohl an dem Tee. Mit seinem ausgesuchten Aroma.

Das war ihre erste Begegnung. Von da an kam sie jedes Jahr zu Hein in den kleinen Laden. Meist im August und obwohl es die Zeit war, in der die meisten Touristenströme wie Ameisenscharen den alten Hafen hinauf- und hinunterkrabbelten, fing er an, den Schirmständer vor die Tür zu stellen. Natürlich nur, damit diese nicht so schrecklich quietschte.
Als der August sich das fünfte Mal jährte, schrieb sie ihm, dass sie dieses Jahr nicht kommen könne, aber ihn vermissen würde. Den Tee. Da begann er kleine Päckchen für sie zu packen. Mit Duft aus Lotus oder Rose oder herb. Aus Karamell. Jedes seiner Päckchen war eine verschlüsselte Antwort auf kleine Aufmerksamkeiten, die sie ihm schickte. Aus ihrem kleinen Betrieb. Selbstgemacht und Ausdruck ihrer Stimmung, die sie gerade (für ihn?) empfand.
Ole, der auch Postzusteller in dem Sielort war, fehlte das Verständnis für diese Zartheit. Schwungvoll pfefferte er die Päckchen über den Ladentisch, die Hein behutsam auffing und verwahrte. In seinem rückwärtigen Zimmerchen, bis der Ladenschluss kam und er sie dann öffnete, vorsichtig, Schicht für Schicht mit seinem Messer, mit dem er sonst nur die Teedosen mit dem edlen, Weißen Tee öffnete. Kostbarkeiten schälten sich für ihn aus den Päckchen, die er alle verwahrte. Eins um das andere. Mit einem Duft nach Kautabak, verbunden mit leichten Farben wie Himmelblau. Erdigem Braun. Frischem Grün und knalligem Gelb. Sogar Zartrosa war dabei mit darauf hingetupften lustigroten Punkten. Wie vorwitzige Sommersprossen.

Bis er es eines Abends nicht mehr aushielt und vor die Tür seines Ladens trat. Ole war gerade auf dem Weg zur „Boje“ und musterte ihn zwar etwas komisch von Kopf bis Fuß, aber dann schlug er ihm doch wieder wie üblich auf die Schulter und brummte so etwas wie: „Frauen-Plattbodenfisch-Fanclub“. Allerdings nicht, ohne sich dieses Mal nach einigen Metern wieder umzudrehen und lauthals gegen den Wind zu schreien: „Die wird dich noch in den Ruin treiben!“
Hein stapfte unbeirrt weiter. Die Gummistiefel quietschten in immer gleichem Rhythmus bei dem Sauwetter unter seinen Füßen. Dann blieb er stehen. Vor seinem Ziel. Das Wasser lag jetzt glatt und ruhig vor ihm. Nur sein Schatten schob sich darüber und in der Stille hörte man die Regentropfen darauf klackern, die anschließend kleine Kreise auf der Oberfläche bildeten.

Dann sprang er.

Über die kleine Pfütze. Mitten in seinen Schatten hinein. Mit den Gummistiefeln. Von Layla. In deren Farbe er sich verliebt hatte. Rosarot. Woher wusste sie ... ? Auch seine Schuhgröße? Sie passten zu ihm. Haargenau. Wie die Punkte darauf. Die roten. Frech wie ihre Sommersprossen.


© P.S./Glädja Skriva/November 2013/ 1. Version

Letzte Aktualisierung: 03.11.2013 - 14.05 Uhr
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