Halb und halb | Dezember 2013
| Leuchtfeuer | von Klaus Eylmann
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Wie die Zeit läuft. Schon wieder Herbst, und in Horsdorp an der Wümme prasselte Regen gegen die Butzenscheiben des „Roten Ochsen“, in dem sich zwei grantelnde Bauern bei einem Bier über ihre Frauen unterhielten, während das Schlagzeug einer Band vom Tanzsaal herüberhämmerte.
Die Kapelle spielte etwas Langsames. An einem der Tische saß Peter Grützmann und stierte auf die Frau seiner Träume, die sich mit ihrem Mann auf der Tanzfläche drehte, und er sang mit: „Me and Mrs. Jones, we got a thiiiiing going on.”
Er hörte nicht, wie der Wirt rief: „Hallo Iggy! Am Tisch neben der Säule sitzt dein Freund Grützmann und himmelt Lisa Lammer an.“
“Alter, das ist nicht Mrs. Jones. Das ist Frau Lammer, die dort tanzt.“ Plötzlich stand neben Grützmann ein junger Kerl, strich sich über das gegelte Haar, wackelte mit den Hüften und sang: „Here comes Johnny Yen again with the Liquor and Drugs and the flesh machine.“
“Iggy!“ Grützmann sprang auf. „Wann habe ich dich das letzte Mal gesehen? Jahre ist das her. Setz dich, Mann!“ Er drückte Iggy auf einen Stuhl, ließ sich auf seinen Sitz fallen und sah wieder auf die Tanzenden. „Sie lächelt mich an“, stöhnte er.
„Du bist nicht der einzige.“ Iggy räkelte sich. Der Messingknopf an seiner Nase funkelte.
„Lisa Lammer ist ein Leuchtfeuer“, fuhr er fort. „Sie rotiert und blinkt die Männer an. Achte mal auf die in ihrem Blickfeld.“
Auf deren Gesichtern war ein idiotisches Grinsen zu sehen, dass wieder verschwand, sobald sich Frau Lammers Blick nicht mehr auf sie richtete.
“Du meinst....”. Grützmann war wie betäubt.
„Genau, und dabei hast du dich so fein gemacht. Den Konfirmationsanzug wieder aufgebügelt?“ Iggy kicherte und stand auf: „Gehen wir in die Gaststube.“
Wie benommen folgte Grützmann und bestellte zwei Bier bei der Bedienung, die mürrisch hinter der Theke stand.
„Und ich dachte, sie hätte nur mich angelächelt.“ Grützmann starrte in sein Bier. Dann sah er hoch. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
„Physik studiert, in Dünkelskirchen, und nebenbei...“ Iggy prostete Grützmann zu. „Nebenbei habe ich eine Zeitmaschine gebaut.“
„Ich glaube, ich gehe wieder nach drüben“, bemerkte Grützmann. „Was? Zeitmaschine? Schön wäre es. Ich gäbe dir die Hälfte von 1000 Euro, wenn du in die Vergangenheit reist und meinen Großvater umbringst, bevor er Kinder gezeugt hat. Die andere Hälfte bekämst du, wenn du zurückgekommen bist.“
„Was für ein Trickser.“ Iggy grinste. „Grützmann, dann existierst du doch gar nicht und das wolltest du doch, oder? Dann,“ überlegte er, „könntest du mir dein ganzes Geld geben.“ Iggy erhob sich. „Du hast dich in eine verheiratete Frau verliebt. Ist dir noch zu helfen? Ich habe nicht viel Zeit. Ich zeige dir den Apparat am besten gleich. Komm mit. Ist nicht weit.“
Iggy führte ihn zu einer Scheune, die leer war bis auf ein Drahtgestell, das, wenn man seine Phantasie spielen ließ, an das Stargate erinnerte.
„Dieser Ring da?“, fragte Grützmann. “Das ist alles?“
„Die Intelligenz steckt in meinem Notebook.“ Der Ring war durch Kabel mit einem Laptop verbunden, der auf einem Klapptisch ruhte.
“Sie quantifiziert die Zeit“, fuhr Iggy fort. „Ich mache es simpel. Zeit ist eine in unendliche Anzahl von Möglichkeiten gesplittete Dimension, die in jedes Lebewesen dringt und es als Strang in Form der berechenbaren Vergangenheit verlässt.“
„Und wenn man Objekte durch schickt“, Grützmann zeigte auf den Ring, „verschwinden diese? Perfekte Lösung zur Müllbeseitigung. Die Kommune schiebt ein Förderband zur Hälfte durch den Ring. Würde das funktionieren?“
„Probieren wir es aus.“ Iggy verschwand nach draußen, kam mit einer Eisenstange zurück, ging zum Ring und schob sie zur Hälfte hindurch. Iggy wurde in die Luft geschleudert. Die Stange verschwand.
„Mann, wenn ich die Stange nicht losgelassen hätte... . Was den Vorschlag mit dem Müll betrifft. Alles, was hinter dem Ring verschwindet, kommt nach einigen Stunden wieder zurück. Würde das nicht passieren, wäre es trotzdem sinnlos, denn die Erde wäre in unserer Zeit längst zugemüllt.“
„Wo und wann lande ich, wenn ich durch den Ring steige?“
„In Horsdorp und um die Zeit herum, die ich in den Bildschirm eingegeben habe“, antwortete Iggy. „Es ist ein Quantum Computer.“ Iggy zeigte auf den Laptop. „Der kann gar nicht exakt arbeiten. Würde er das tun wollen, funktionierte er nicht. Das ist doch wie bei eurer, ähm, ich meine bei unserer Bundeskanzlerin. Als Physikerin kennt sie die Quantenmechanik. Je genauer ihre Aussagen sind, desto weniger funktioniert ihre Politik.“
„Cool.“ Grützmann kratzte sich am Kopf und stellte sich vor den Ring. „Kann ich da mal durchgehen? Ich komme doch wieder zurück, oder?“
„Ich habe noch nie einen Menschen durch geschickt. Aber Mensch oder lebloses Objekt. Das Gesetz ist für alle gleich.“ Iggy lachte. „Das physikalische.“ Er machte sich am Computer zu schaffen.
„Ich stelle ihn auf minus 60 Jahre ein. Wenn du nicht innerhalb von 6 Stunden wieder zurückkommst, hast du deinen Großvater umgebracht.“ Grützmann machte einen Schritt vorwärts.
Die träg dahin fließende Wümme war das erste, was er sah. Er stand auf dem Deich. Es war neblig und Grützmann erblickte mit Mühe Blüten und Konturen der Apfelbäume. Er lief den Abhang hinab, kletterte über ein paar Zäune und machte sich auf den Weg in die Stadt. Auf den ersten Blick hatte sich an der Dorfstraße nichts verändert. Er sah den Roten Ochsen, doch dann ein paar Birken und hohes Gras, wo das Autohaus Lammer hätte stehen müssen. Grützmann dachte an Lisa und seufzte, bewegte sich auf die Kirche am Marktplatz zu. Daneben musste sich das Fahrradgeschäft befinden, das sein Vater vom Großvater übernommen hatte. Er sah einen Blumenladen.
Grützmann setzte sich auf eine Bank. Die Zeit sei wie ein Gummiband, hatte Iggy gesagt, und würde ihn in wenigen Stunden zurückholen. Seinen Großvater umzubringen, nur damit er selbst aus dem Leben verschwinden konnte, war vielleicht doch keine so gute Idee. Zumal es seinen Vater dann auch nicht mehr gäbe. Und was würde dann aus dem Fahrradgeschäft?
Ein junger Mann setzte sich neben ihn und packte sein Brot aus.
„Hallo.“ Grützmann erwiderte den Gruß.
„Neu hier?“
„Zur Hälfte.“ Der Nebel versteckte sich zwischen den Apfelbäumen. Die Sonne brannte.
„Ich war schon in Horsdorp“, erklärte Grützmann. „Aber nicht zu dieser Zeit.“
„Hier ändert sich nichts.“ Der Junge biss herzhaft in die Stulle. „Bis jetzt. Sehen Sie das Blumengeschäft dort?“ Eine Weile sagte er nichts, verzehrte sein Brot.
Er fuhr fort: „Der Besitzer macht dicht und geht in Pension. Ich übernehme den Laden und verkaufe dann Fahrräder.“ Der Junge stand auf, sagte: „Ich muss jetzt los“, und ging.
Grützmann blieb das Wort im Hals stecken. Er sah dem Jungen nach. War das sein Großvater? Die Uhr zeigte ihm, dass drei Stunden vergangen waren, und er ging zum Deich zurück. Der Nebel machte sich bemerkbar, wurde dichter. Er stieg die Anhöhe hoch, ging nervös auf und ab. Meisen landeten auf dem Schilf, flogen davon. Mücken tanzten über dem Wasser, Frösche quakten, Wasserhühner schwammen in Ufernähe herum. Aus dem Nebel trat eine weibliche Gestalt hervor. Ihr Gesicht war bleich. Sie trug das Kleid, das er an ihr bewundert hatte.
„Frau Lammer!“ Grützmann errötete.
„Oh!“, rief die Frau. „Sie sind doch der junge Mann, der bei Schlachter Großkopf arbeitet!“
„Der bin ich,“ strahlte Grützmann. „Doch wie sind Sie in diese Zeit gekommen?“
„Ach“, antwortete Lisa. „Mein Mann war im Tanzsaal eingeschlafen und dann kamen die jungen Männer auf mich zu. Aus allen Richtungen. Es waren so viele. Ich war wie gelähmt. Plötzlich stand Ihr Freund Iggy neben mir und bot an, mir seine Zeitmaschine zu zeigen. Er war mein Retter; denn nun bin ich bei Ihnen.“
Ein „Oh“ entfuhr Grützmann. „Ich heiße Peter.“ Er trat näher an Lisa heran. „Wissen Sie, dass wir nach einigen Stunden wieder in unsere Zeit zurück fallen, in der ich Sie nur aus der Ferne anbeten kann?“
„Das ist so lieb, wie du das sagst, Peter.“ Lisa schmiegte sich an ihn. „Küss mich.“ Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. Dann stand er plötzlich auf dem Marktplatz.
Eben schien noch die Sonne. Nun kam der Mond hinter den Wolken hervor, und die Häuser glotzten Grützmann mit erleuchteten Fenstern an. Er rannte los. Bis zur Scheune waren es nur zehn Minuten. Er wollte zu Lisa, er wollte durch den Ring. Die Scheune war leer, als habe es Iggy und seine Zeitmaschine nie gegeben. Grützmann fluchte und schlurfte mutlos auf Schlachter Großkopfs Haus zu, in dem er ein Zimmer bezogen hatte, wo er diese Nacht keinen Schlaf fand.
Am nächsten Morgen kam Lisa in die Schlachterei. Sie trug Mantel, Sonnenbrille, die nur mühsam die Schwellungen darunter verbarg, und bestellte Gemischtes Hack. Grützmann packte noch zwei Steaks dazu und flüsterte: „Sie wissen schon wofür.“
100 Jahre später hielt Iggy ein paar CDs in der Hand „Drei coole Alben von Iggy Pop. Spielen wir sie, solange sie da sind.“ Und schon dröhnte der „Passenger“ durchs Labor. „I´m the Passenger, and I ride and I ride... .“
„Hast du deinen Großvater gefunden?“, fragte ein Kollege.
„Er war nicht in Horsdorp. Er studierte in Dünkelskirchen. Ich wollte ihm die Zeitmaschine zeigen, ihn stolz machen und ihm sagen, mit was für tollen Genen er ausgestattet war. Dafür traf ich dessen Freund, dem ich zu einem Abenteuer verholfen habe, das er nicht vergessen wird.“
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Letzte Aktualisierung: 12.12.2013 - 18.13 Uhr Dieser Text enthlt 9738 Zeichen. www.schreib-lust.de |