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Halb und halb | Dezember 2013

Zwei in Einem
von Ingeborg Restat

Es war einmal eine kleine Orchidee und eine kleine Kranzwinde, die wurden beide in einen Blumentopf gepflanzt, jede in eine Hälfte davon. Dann wurden sie hübsch verpackt und einer Frau von ihrer Freundin zum Geburtstag geschenkt.
„Viel Spaß damit! Pflege sie gut. Ich bin neugierig, wie die beiden sich arrangieren, wenn sie größer werden“, sagte die Freundin dazu.
Die Frau stellte sie an ihr Blumenfenster, gab ihnen Wasser, manchmal auch Dünger, und freute sich, als sie anfingen zu wachsen.
Noch hatten sie Platz nebeneinander, die Orchidee mit ihren breiten, langen Blättern und die Kranzwinde mit ihren in die Höhe strebenden Ranken. Da die Winde aber nichts fand, woran sie hochranken konnte, wand sie ihre Ranken um die Blätter der Orchidee. Damit begann der Streit.
„He! Nimm deine widerlichen Ranken weg von mir“, forderte die Orchidee erbost.
„Wie denn? Wo soll ich sonst damit hin?“, fragte die Winde beleidigt zurück.
„Ist mir doch egal. Jedenfalls kannst du dich nicht einfach so breitmachen.“
„Wer macht sich hier breit? Deine riesigen Blätter füllen schon mehr als den halben Topf. Und dann deine lästigen Luftwurzeln, überall hängen die herum und zu mir schiebst du sie auch herüber.“
„Was kann ich dafür? Ohne die kann ich nicht leben.“
„Und ich nicht ohne meine Ranken.“
Als hätte das die Frau gehört, kam sie eines Tages mit einem Kranzgestell für die Winde und steckte es in den Topf. Vorsichtig nahm sie die Ranken von der Orchidee und befestigte sie an dem Gestell.
Jetzt konnte die Winde ihre Ranken in die Höhe wachsen lassen. Bald sah sie auf die Orchidee herab und frohlockte: „Was bin ich groß! Das wirst du, mit deinen breiten und langen Blättern, nie erreichen.“
„Pah! Was hast du schon davon?“, erwiderte mürrisch die Orchidee.
„Ich kann wachsen und wachsen, habe Platz und stoße nirgends mehr an eine andere Pflanze im Blumenfenster an. Und wenn ich erst blühe, werden alle Menschen auf mich schauen, weil ich nicht so klein im Topf bleiben muss, sondern mein über allen stehender Kranz voller Blüten sein wird“, brüstete sich die Winde
„Dass ich nicht lache! Hast du noch nie eine Orchidee blühen sehen? Beeile dich, wenn die Menschen auf dich schauen sollen, denn ich beginne schon meine Blütenstiele zu strecken.“
Die Winde schwieg betroffen. Was bedeutete das? Und sie beeilte sich, ihre erste kleine Traube von trompetenartigen Blüten zu öffnen. Wie war sie stolz, als die Frau das sah und sich darüber freute.
Dabei war sie so sehr mit sich und ihrem Blühen beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie die Orchidee gleich mehrere ihrer Blütenstiele bis zu ihrem Kranz und darüber hinaus gestreckt hatte. Erst Tage später, als sich eines Morgens mit dem ersten Sonnenstrahl eine der prachtvollen Blüten an so einem Stiel öffnete, erst da nahm sie das betroffen wahr. Was nun? Selbst wenn sie ihre Ranken höher und höher wachsen ließ, die Frau würde kommen und sie jedes Mal wieder um den Kranz legen.
Wie die Winde befürchtet hatte, brach die Frau in Jubel aus, als sie die Orchideenblüte bemerkte. Sofort rief sie bei ihrer Freundin an. Und nicht nur sie kam, um die wunderschöne Orchidee zu bewundern, die mit jeder weiteren Blüte, die sich öffnete, schöner und schöner wurde.
Wer schaute bei solcher Pracht noch nach der Winde?
So blieb es dann. Als gar die Orchidee ihre üppig blühenden Stiele breit über das Fenster und alle anderen Pflanzen fächerte, verschwand die Winde darunter. Nun fast unscheinbar mühte sie sich, eine Blütentraube nach der anderen hervorzubringen. Umsonst! Niemand schaute mehr nach ihr. Alle waren nur von der Pracht der Orchidee begeistert. Gegen diese Konkurrenz kam sie nicht an.
Wie konnte das nur sein? Die Winde verstand es nicht. War die Orchidee doch nur eine niedrige Pflanze mit breiten und langen Blättern, die nie ihre Höhe erreichen könnte. Warum durfte sie dann so hoch und stolz ihre Blüten tragen? Traurig hörte die Winde auf zu blühen. Wozu, wenn keiner hinsah? Nein, neben dieser Orchidee wollte sie nicht leben, schon gar nicht ihre Wurzeln mit ihr in einen Blumentopf stecken. Da ließ sie ihre Ranken nicht mehr wachsen. Bald wurde das erste Blatt gelb, dann das zweite …
Die Orchidee aber kümmerte das nicht. Sie genoss frohlockend jede Beachtung und dehnte in dem Topf ihre Blätter und Luftwurzeln mehr und mehr auch über die Seite der Winde.
Schließlich bemerkte das die Frau. Sie vertragen sich wohl doch nicht. Man soll eben nichts zusammensetzen, was nicht zusammenpasst, dachte sie, nahm einen zweiten Topf, setzte die Winde allein da hinein und stellte sie an ein anderes Fenster neben ein bescheidenes Parmaveilchen. Nun war sie von beiden unstrittig die Größte. Jetzt wuchs und gedieh sie wieder und dankte es jedes Jahr mit reichlichen Blütentrauben. Hier freute sie sich über jede Beachtung, ohne von der Blütenpracht der Orchidee erdrückt zu werden. Das Parmaveilchen dagegen kannte nicht den Ehrgeiz, die Größte zu sein. Es blühte still für sich und bewunderte die Winde – was der sehr gefiel.

Letzte Aktualisierung: 25.12.2013 - 22.49 Uhr
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