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Halb und halb | Dezember 2013

Weihnachten in Haselstedt
von Hajo Nitschke

Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2013 stellte Wilhelm K. fest, dass sein Lieblingsplätzchen ihn verlassen hatte. Zurück blieb nur ein Zettel im leeren Weihnachtsteller: Kündige fristlos! Diese Enttäuschung! Während der gesamten vierten Adventwoche aufgespart! Morgens der erste und abends der letzte Gedanke. Selbst am Heiligabend noch der Verlockung widerstanden. Immer wieder behutsam befühlt und gestreichelt. Die teils cremig-feine, teils knusprige Konsistenz in Gedanken bereits auf der Zunge zergehen gelassen und das Aroma von Mandeln und Rosinen inhaliert. Und dann dieser unbeschreibliche Ausdruck ganz spezieller Backkunst in Vollendung. Oh, dieser Duft! Halb Vanille, halb Zimt: Wie perfekt sie in Mischung und Geschmack harmonierten! Vom gut gefüllten Teller als letztes, deutlich größtes von seinesgleichen übrig gelassen, um endlich heute verzehrt zu werden! Nein, nicht einfach nur verzehrt, sondern andächtig zelebrierend genossen.

Und jetzt das! Eine kalte Dusche. Er brauchte einige Zeit, um den Schock zu überwinden. So schmerzlich mochte es zugehen, wenn eine innige Beziehung zerbrach, so ernüchternd, wenn eine heiße Affäre mit einer schnöden SMS endete. Wie das nachhallte, dieses Kündige fristlos! Nie damit gerechnet. Dürfen Plätzchen überhaupt kündigen?

Am Anfang konditioniert durch die Kombination aus Fett und Zucker – lustvolle Stimulanz des Gehirns, verstärkt durch himmlischen, würzig-süßen Duft und Geschmack von edler Bourbonvanille nebst Zimt. Und sie (er stellte sich diese auserlesenen Plätzchen als weiblich vor) wäre die Erfüllung dieses Festtages gewesen. Der Teller, in dem sie, mit einem Stückchen Blattgold bekrönt, residierte, war ihm für die Dauer von mehr als einer Woche zum Hausaltar geworden. Er meinte, es sei gegenseitige Liebe gewesen: Halb zog sie ihn, halb sank er hin – wie der Fischer aus der klassischen Ballade. Nur, dass nun sie nicht mehr 'gesehen ward'.

Der verschmähte Liebhaber füllte, jäh seiner weihnachtlichen Stimmung beraubt, aus der riesigen Keksdose nach. Doch der Anblick des festlichen Gebäcks wollte ihn nicht trösten. Traurig besah er sich die Köstlichkeiten. Pfeffernüsse, Vanillekipferl, Buttertaler, Makronen, Zimtsterne. Aber was war die ganze Pracht gegen sein Lieblingsplätzchen! Er hatte keinen Appetit, fühlte sich einsam.

In diesem Moment erklangen draußen leise Marschtritte. Wilhelm K. begab sich ratlos vor das Haus, an dem lange Plätzchen-Kolonnen vorbeizogen. Hinter seinem Rücken sprangen, wie von Geisterhand bewegt, sämtliche Gebäcke vom Tisch, bewegten sich zu seinen Füßen ins Freie und schlossen die Reihen. Wie in Trance folgte Wilhelm K. dem Zug. Er war sicher, zu träumen. Als er sich in den Arm kniff, war der Spuk nicht vorbei. Aber man kennt das ja: es musste ein Traum sein, einer von jenen, in denen man um seinen Zustand weiß und nicht aufwachen kann, Irgendwann würde es vorbei sein. Bis dahin galt es zu beobachten.

Die Plätzchen marschierten! Aus allen Gassen und Seitenstraßen strömten sie herbei. Ein nicht abreißender Schweigemarsch, begleitet nur vom gleichmäßigen Geräusch der Marschtritte. Sie hatten sich aus eigenem Teig Arme, Beine und Köpfe geformt. Armeen von Kokosplätzchen, Mandel-, Honig- und Anisplätzchen, dazu Spritzgebäck, Mürbeteigbällchen und mehr. Hier solidarisierten sich ganze Abteilungen von Nougatecken und Christstollen, die mit wuchtigem Schritt Arm in Arm mitmarschierten. Dort wackelte wie die legendäre wandernde Hütte der Hexe Baba Yaga ein komplettes Pfefferkuchenhäuschen des Weges. Und einmal glaubte Wilhelm kurz sein Lieblingsplätzchen entdeckt und einen sehr entschlossenen Blick aus Rosinenaugen erhascht zu haben.

Es ging zuletzt durch die Hauptstraße und den Park, dann am Rathaus und am kleinen Haselstedter Bahnhof vorbei und nun zur Marienkirche im Zentrum des Ortes. Mittlerweile hatten fast alle Einwohner, vom Kind bis zum Greis, stumm vor Erstaunen und Nichtbegreifen die Begleitung des Zuges aufgenommen.

Die Teig- und Menschenmassen sammelten sich auf dem großen Markt- beziehungsweise Kirchplatz. Immer mehr Kekse aller Arten und Sorten stießen hinzu. Ein schwerer Duft von Lebkuchen, Karamell, Ingwer, Zimt, Vanille und anderen Gewürzen lag über dem Markt. Ordnungshüter versuchten einzugreifen. Wilhelm K. drängte sich durch die nicht mehr überschaubare Menschenmenge vor und auf dem Platz bis zur Absperrung. Besah sich das Gewimmel kleiner Gestalten aus nächster Nähe. Hörte sie plötzlich eigenartig krümelig skandieren: „Stoppt-den-Plätz-chen-mord, stoppt-den-Plätz-chen-mord!“ Spruchbänder und Transparente, wie auch immer beschafft, ragten aus dem Gewühl: „Wir wollen leben!“ und dergleichen mehr. Das also war die Botschaft, aha.

Die Ereignisse überschlugen sich. Gegendemonstranten erschienen: „Wir lassen uns das Plätzchenessen nicht verbieten!“ oder „Freier Kekskonsum für freie Bürger!“ Indessen wuchs die Menge kleiner Krümelmonster in beängstigendem Maße, offenbar herbeigeführt aus aller Welt durch ein globales Krümelnachrichtennetz. Unbegreiflich, wie schnell sie zur Stelle waren, es musste Magie im Spiel sein. Die Polizei war nicht mehr Herr des Geschehens! Megafonaufrufe „Bitte räumen Sie den Platz!“ blieben erfolglos. War das noch eine Großkundgebung oder schon eine Invasion? Man sah schwedische Pfefferkuchen, griechisches Nussgebäck, italienische Amaretti, österreichische Kokosbusserln, dazu sogar amerikanische Brownies. Aus Japan hatte sich eine Abordnung Sunobono Kukkis dazugesellt.

Und sie begannen zu singen. Aus unzähligen, teigig gurgelnden, wie von außerirdischen Wesen stammenden Stimmen hörte man „We-shall-o-ver-co-o-ome, we-shall-o-ver- co-o-ome …!“
(Die japanischen Schneeball-Cookies, die Wilhelm am nächsten standen, intonierten: „We shall o-vel-co -o -ome!“) Orkanartig schwollen die Gesänge an., es mochte einem angst und bange werden. Die Teigmase konnte sich nur noch – jeweils auf der Schulter des Untermannes – in die Höhe ausdehnen, wobei die kräftigen Weihnachtsstollen das Fundament bildeten. Mittlerweile hatte sich ein gigantischer Plätzchenturm auf dem Marktplatz aufgehäuft. Der wuchtige Quader überragte bereits die Kirchturmspitze bedrohlich und verdunkelte allmählich den Himmel. Man sollte schleunigst von hier …

Zu spät!

Entsetzte Schreie aus tausenden Kehlen. Unter dem eigenen Gewicht zerdrückt brach der Plätzchenberg wie einst der Turmbau zu Babel in sich zusammen zu einer apokalyptisch aufwogenden Krümelmasse. Die Menschen rannten um ihr Leben. Gehetzt, keuchend, in Panik. Aber sie wurden eingeholt und die Krümelwogen schlugen über ihnen zusammen. Brachen sich mit Krakenarmen Bahn. Fluteten weiträumig den Stadtkern, rasten wie eine gewaltige, alles niederreißende Lawine durch Haselstedts Straßen, Grünflächen und Vorgärten, brandeten gegen die Häuser und bedeckten alles unter einem teigigen Leichentuch.

Vor Wilhelms Augen wurde es stockfinster! Er realisierte noch den bekannten Duft aus Rosinen und Mandeln, aus Vanille und Zimt, aber so intensiv, dass ihm übel wurde. Seine schwindenden Sinne gaukelten ihm erneut jenes balladeske Bild vor. Erfüllte es sich in diesem Augenblick endlich an ihm selbst? Deckte sie ihn jetzt zu? Es war ihm gleichgültig. Mochte sie es sein, die ihn halb zog, und mochte er das Opfer sein, das halb hinsank: es war nicht mehr von Bedeutung. Wilhelm konnte sich nicht mehr bewegen, das Gewicht auf der Brust wog Tonnen. Mund und Nase waren von Teig verstopft. Ihm schwanden die Sinne.

***

Das Krümelmeer hatte fast die gesamte Einwohnerschaft verschlungen, war zum Massengrab geworden. Nachdem man dieses freigelegt hatte, fand man neben wenigen Überlebenden nur erstickte und zermalmte Leiber, viele nicht mehr zu identifizieren. Auch Wilhelm K. wurde seit der Tragödie von Haselstedt nicht mehr gesehen.



@ Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 03.12.2013 - 19.57 Uhr
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