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Halb und halb | Dezember 2013

Herr von Santhrop und die Liebe
von Elmar Aweiawa

Michael Ignatius von Santhrop bewegte sich in seiner Freizeit selten aus dem Haus. Er liebte die Menschen so wenig, dass er gut und gerne auf Kontakt mit ihnen verzichten konnte. „Auf tausend Kretins kommt ein halbwegs erträglicher Kerl“, pflegte er zu sagen, und ergänzte für gewöhnlich: „Aber mir ist der noch nicht begegnet.“
Wenn es sich allerdings um seinen geliebten Schopenhauer handelte, sprang er ab und zu über den eigenen Schatten und ging unter Seinesgleichen. So auch an diesem besonderen Tag, der ihm lange in Erinnerung bleiben sollte.

Die Stadtbibliothek hatte einen Vortrag angekündigt, der sich mit Schopenhauer als Mensch auseinandersetzen wollte. Als hätte man den Menschen Schopenhauer von seinem Werk trennen können. Da musste er hin, den Frevel verhindern und den Redner der Lächerlichkeit preisgeben.

Wie üblich ging er zu Fuß, weil der ÖPNV einer Vorhölle gleichkam. Er kannte einen Schleichweg, der vorteilhafterweise durch ein Industriegebiet führte, wo er selten jemandem begegnete. Heute jedoch trat aus dem einzigen Wohnhaus weit und breit eine Frau in seinem Alter, mit feuerroten Haaren und resolutem Gesichtsausdruck. Herr von Santhrop verlangsamte seine Schritte.
Während seine Augen noch wohlgefällig auf ihrem Hintern ruhten - weibliche Reize ließen ihn keineswegs kalt -, näherte sich von vorne ein Roller, fuhr extrem dicht an der Frau vorbei, und der Beifahrer zerrte ihr die Handtasche von der Schulter. Die Frau kam schreiend zu Fall.
Die anschließende Flucht führte die Diebe direkt an Herrn von Santhrop vorbei, was sich als äußerst ungesund erwies. Denn dieser streckte einen Arm aus und der Fahrer des Rollers raste mit der Brust dagegen. Die Wucht des Aufpralls riss Michael Ignatius fast von den Füßen. Wesentlich schlimmer erging es den beiden Langfingern. Ihr Roller überschlug sich und sie landeten ziemlich unsanft auf der Straße.

Ohne sich um das Wehklagen der beiden zu kümmern, ergriff Herr von Santhrop die entwendete Tasche und brachte sie der Frau, die sich eben wieder hochrappelte.
„Ich glaube, die gehört Ihnen“, sagte er.
„Warten Sie bitte hier einen Moment“, entgegnete sie und stürmte auf die Jugendlichen los. Sie ließ die Handtasche wie einen Propeller um den Kopf kreisen und drosch damit auf die beiden ein.
„Lumpenpack, Saubande, Schweinsgesichter“, waren noch die harmloseren Worte, die sie dabei von sich gab.

Eigentlich hatte Michael Ignatius gleich verschwinden wollen, aber dieses Schauspiel ließ er sich nicht entgehen. Das Weib hatte Haare auf den Zähnen, was sie einen Deut sympathischer erscheinen ließ als die meisten Zeitgenossen. Belustigt verfolgte er, wie die Handtasche ganze Arbeit leistete und voller Wucht auf die Burschen niederkrachte.
Etwas außer Atem drehte die Amazone sich um und kam auf ihn zu. Das war nicht in seinem Sinn und so schaute Herr von Santhrop, dass er wegkam.
„Halt, stehen geblieben!“
Dieser barschen Stimme konnte Michael Ignatius sich so wenig widersetzen wie damals der befehlsgewohnten seiner Mutter. Ihre dominante Art hatte Spuren hinterlassen.
„Abhauen gilt nicht!“, fuhr sie ihn an. „Ich schulde dir jetzt etwas, und das mag ich nicht. Also werde ich mich revanchieren.“

Sicher, dass er ihr folgte, stolzierte sie auf das Haus zu, aus dem sie vor einigen Minuten gekommen war, und öffnete die Tür.
„Rein mit dir!“, befahl sie und schubste Michael Ignatius über die Schwelle.
„Leg ab!“, ordnete sie an, und als er sich dagegen verwahren wollte, legte sie Hand an und zog ihm das Jackett aus. Eine kräftige Person, fürwahr. Er hatte keine Chance gegen ihre üppige Körperlichkeit.
„Ich danke dir!“, bellte sie, nachdem sie ihn in den einzigen Sessel im Raum gedrückt hatte. „Diese Schweine haben es verdient, und du hast es ihnen gegeben. Jetzt hast du einen Wunsch bei mir frei.“

Irritiert betrachtete Michael Ignatius die Frau. Haarfarbe und Lippenstift waren aufeinander abgestimmt, die Augenbrauen rasiert und mit einem Stift nachgezogen. Sie hatte den Mantel abgelegt und was darunter zum Vorschein kam, war mehr als seltsam. Ihr schwerer Busen wurde dem Blick des Betrachters entgegengehoben. Ein schwarzes Etwas aus durchsichtigem Stoff bedeckte ihren Oberkörper nur unzureichend. So konnte er, nachdem er ungläubig seine Augen gerieben hatte, erkennen, dass die Brustwarzen ihn durch Löcher im BH anstarrten.

„Ich habe keine Wünsche“, gab er kleinlaut von sich. „Höchstens, dass ich jetzt gehen möchte.“
„Kommt gar nicht in die Tüte“, antwortete sie, „so kommst du mir nicht davon. Du siehst doch, was ich anhabe. Fällt dir gar nichts dazu ein? Oder bist du etwa aus Stein?“
Wenn er ehrlich war, fiel ihm dazu durchaus etwas ein, und zwar schon, seit sie den Mantel abgelegt hatte. Genauer, seit er sie mit dem Hintern wackelnd vor sich hergehen gesehen hatte. Eben weil er keineswegs aus Stein war, gönnte sich Herr von Santhrop einmal im Monat den Besuch eines Bordells. Die unpersönliche Art dieser Beziehung, die ausschließlich geschäftlicher Art war und jeglichen Austausch von Gefühlen ausschloss, kam seinem Naturell entgegen. Ein Tauschgeschäft, Geld gegen Befriedigung, etwas anderes kam in diesen Dingen für ihn nicht infrage.
Eben deshalb erschien ihm ihr Angebot suspekt. Ja, mehr als das, äußerst befremdlich. Zwar arbeitete sie ziemlich sicher ebenfalls in dieser Branche, aber sie bot ihm keine käufliche Liebe an. Das entsprach nicht dem Geschäftsgebaren, das er gewohnt war.

Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen, als sie ihren Stuhl näher heranrückte und ihm ihre Brüste direkt unter die Augen schob.
„Ich glaube fast, du willst mich beleidigen. Gefall ich dir etwa nicht?“ Eine gefährliche Frage, dessen war sich Michael Ignatius bewusst.
„Doch sehr“, gab er wahrheitsgemäß zu. Ihre üppige Figur entsprach ziemlich genau seinem Schönheitsideal. Ihre herrische Art traf einen Nerv, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er ihn besaß.
„Dann komm mal ein bisschen näher, oder hast du Angst?“
Statt abzuwarten, bis er ihrer Aufforderung nachkam, presste sie sich an ihn, sodass ihre Brüste sein Gesicht fast berührten. Wie hypnotisiert starrte er auf das ansehnliche Vorgebirge, während ihr Parfüm ihn benebelte. Moschus, vermutete er. Die Geruchsmoleküle drangen in seine Nase und legten sein Gehirn lahm.

„Ach übrigens, bevor wir weitermachen, ich heiße Michaela, und du?“
„Michael Ignatius!“
„Schön, du darfst mit ihnen spielen, dafür sind sie da.“ Mit beiden Händen griff sie hinter sich, ein Stück Stoff flog zur Seite und die Schwerkraft verrichtete eine ihrer schönsten Beschäftigungen. Santhrops Widerstand erlahmte mehr und mehr. Dieser unglaublichen Präsenz hatte er nichts entgegenzusetzen. Die Alabasterkugeln wirkten wie Magnete auf ihn. In Trance hob er seine Hände und fasste zu. Ein Stöhnen entfuhr ihm und die Brustwarzen brannten ihm Löcher in die Handflächen.
Halb zog sie ihn, halb sank er hin, und sein Kopf näherte sich stetig ihren Hügeln. Zuletzt packte ihn die Liebesdienerin mit einem Ruck und presste sein Gesicht zwischen ihre Fleischberge. Gierig sog er ihren Duft ein und vorsichtig suchten seine Lippen. Michaela ließ ihn gewähren, ja, sie drückte ihm ihre Nippel sogar in den Mund, als er sein Ziel erreicht hatte.

In diesem historischen Moment fiel Michael Ignatius in eine Ekstase, die er für völlig unerreichbar gehalten hatte. Er saugte sich fest, nuckelte und schmatzte wie ein kleines Kind. Und während er sich dieser ihm bis dato unbekannten Leidenschaft hingab, spielte seine rechte Hand mit der anderen Brustwarze. Sie betastete und betatschte die Rundungen, zärtlich, wie man es seiner Pranke gar nicht zugetraut hätte.

Mit geschlossenen Augen gab er von Zufriedenheit gesättigte Laute von sich. Die erfahrene Michaela erkannte, wie es um ihren Säugling stand: Einer ihrer Freier war mal wieder in frühkindliche Sphären abgetaucht. Sie durfte ihn nicht brutal herausreißen. Ihre raue Art war die Schale, hinter der sie sich verstecken musste, wenn sie in ihrem Gewerbe überleben wollte. Ihr Wesen dagegen war sanftmütig, und bei diesem nicht einmal unattraktiven Mann fiel es ihr leicht, sich auf diese etwas ungewöhnliche Art und Weise zu bedanken. Zumal sie ihren Spaß daran hatte. So summte sie ein Schlaflied und betrachtete mit belustigtem und zugleich mütterlichem Blick das große Kind an ihrer Brust.

Etliche Minuten saugte Michael Ignatius mit einer Seligkeit, an die er sich noch Jahre später erinnern sollte. Seine Gedanken ruhten, es gab keinen Hass und keine Angst, Friede wohnte in seiner Seele. Erst als Michaela ihm sanft die Brust entzog, registrierte er, was er gerade tat und woher dieses unglaubliche Einssein mit der Welt stammte.
„Wo bin ich?“, fragte er in den Raum hinein. Da stürmte schon die Außenwelt auf ihn los und er wusste wieder, wer er war und wo er sich befand.
Er rappelte sich auf und polterte los: „Gott verdamm‘ mich, willst du mich an deinem Atombusen ersticken?!“
Die derart Beschimpfte reagierte jedoch nicht wie erwartet, sondern grinste ihn spöttisch an.
„Na, ganz der Alte? Blöder Griesgram!“ Ihre Mimik entsprach nicht ihren Worten, aber das registrierte Herr von Santhrop nicht.
„Hätte ich die Rabauken nur wegfahren lassen! Dann wärst du mir erspart geblieben!“, schimpfte er weiter und schob sich Richtung Ausgang.
„Du bist der dümmste Kerl, der mir jemals begegnet ist“, rief ihm Michaela hinterher, als Herr von Santhrop bereits auf die Straße stürmte. Aufgewühlt bis ins Mark eilte er zu dem Vortrag. Eine Textzeile Schopenhauers ging ihm durch den Sinn: ‚All unser Übel kommt daher, dass wir nicht allein sein können.‘

Allmählich fiel jedoch der Zorn, der ihn gerade noch fest in seinen Krallen gehabt hatte, von ihm ab und er murmelte in widerwilliger Bewunderung vor sich hin: „Verdammt, ein tolles Schlachtschiff!“

© aweiawa, 2013
Version 2

Letzte Aktualisierung: 19.12.2013 - 06.38 Uhr
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