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Halb und halb | Dezember 2013

Der Kuss des Meers ist kühl
von Wolf Awert

Es wäre gar nichts passiert, wenn Hennerk nicht über ein Tau gestolpert wäre, als eine Welle das Boot luvseitig anhob. Hennerk ging schneller über Bord, als ein Fisch sein Maul aufriss, und schlug mit dem Kopf gegen die Bootswand. An mehr konnte er sich nicht erinnern, wie er später erzählte. Sein Onkel, mit dem er jeden Tag zum Fischen rausfuhr, bekam von alledem nichts mit.

Meeresseufzen oder Mundala, wie ihre Eltern und Freunde sie riefen, wusste von den Menschen nur, dass man ihnen am besten aus dem Wege ging und dass sie unter Wasser nicht atmen konnten. Deshalb hielt sie Hennerks Kopf tapfer über Wasser. Wie schön er ist, dachte sie.

Als sie sich an ihm sattgesehen hatte, trug sie ihn zum Strand und lehnte ihn gegen einen Felsen. Sie wollte schon wieder in den blaugrauen Tiefen verschwinden, als sie, verspielt wie sie noch immer war, ihm einen Kuss auf die blauen Lippen drückte.

„Der Kuss des Meeres ist kühl und erfrischend“, flüsterte sie, bevor sie wieder davonglitt.

Hennerk hustete, erbrach einen Liter Seewasser und schleppte sich aufs Trockene, wo ihn die Dorfbewohner später fanden. Laut priesen sie den Namen des Herrn, und leise, aber dafür umso inbrünstiger, dankten sie König Neckepekk.

„Ich kann mich an nichts erinnern“, sagte Hennerk. Und dann fügte er noch gedankenverloren hinzu: „Der Kuss des Meeres ist stets kühl – und erfrischend.“

Die Dorfleute schüttelten den Kopf, aber Hennerk war ja schon immer ein wenig anders gewesen.

Von diesem Tag an war Hennerk kein rechter Fischer mehr. Zwar fuhr er immer noch mit seinem Onkel hinaus, aber immer öfter trieb es ihn zum Strand, wo er dann stundenlang saß und auf das Wasser hinaus starrte. Bevor er abends wieder nach Hause ging, wusch er sich die Lippen mit Seewasser ab. Warum er das tat, wusste er nicht. Aber es traute sich auch niemand, ihn danach zu fragen.

In der Welt, die den Menschen normalerweise verschlossen blieb, stritt Mundala mit ihrem Vater Neckepekk.
„Es ist da draußen so ganz anders, als erzählt wird. Ich habe den Strand gesehen, aber hinter dem Strand wachsen Bäume und hinter den Bäumen erhebt sich ein gewaltiges Gebirge. Ich möchte wissen, wie es zwischen den Bäumen aussieht, ob ein Gebirge nur aus Steinen besteht und ob die Luft dort genau so riecht wie bei uns über dem Meer.

Mundalas Herz war gefangen. Aber nicht von der alles bezwingenden Liebe, sondern durch eine andere Macht, die ihr in nichts nachstand. Es war die Neugier, die Mutter unruhiger Füße, die dafür sorgte, dass jedes Lager unbequem war und sich hinter jedem Hügel noch ein zweiter emporwölbte, der von einem noch grüneren Gras bedeckt war.

„Mundala“, sagte König Neckepekk, aber seine Tochter fiel ihm ins Wort.
„Nein, Vater, hört mir zu. Alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir von dem, was die Wellen uns erzählen, und von Schiffen, die zerbrechen und zu uns herabsinken. Aber was ist, wenn nur wenig Wasser in der Welt ist und viel Sand, nur wenige Algen, aber viele Bäume, von denen wir immer nur die sehen, die uns vom Strand aus zusehen?“

Trauer legte sich über die Augen des Königs, als hörte, wie in Mundalas Stimme das Drängen des Windes das Wiegen der Wellen übertönte.
„Die Welt da draußen ist die Welt der anderen. Es ist nicht unsere Welt. Warum sollte sie uns kümmern?“

„Weil sie da ist“, sagte Mundala, „und deshalb muss ich gehen und sie mir anschauen.

„Ich sehe, dass ich dich nicht halten kann“, sagte Neckepekk. „Doch mag ich nicht erkennen, was du zu gewinnen hoffst. Ich weiß nur, dass du immer ein Kind des Meeres bleiben wirst. Aber da du das Meer nicht mit dir nehmen kannst, wird ein Teil von dir zurückbleiben müssen, und deine Brüder und Schwestern und auch deine Eltern wirst du nie mehr wiedersehen können. Das ist das Einzige, was ich weiß.“

Mundala spürte, wie die Worte ihres Vaters ihr das Herz zerrissen, und sie flüsterte zu sich selbst:
„Und doch muss ich gehen. Denn ein halbes Herz ist immer noch mehr als ein ganzes, das mir in der Brust vertrocknet.“


Als Hennerk am nächsten Tag zum Strand zurückkehrte, fand er seinen Felsen besetzt. Eine junge Frau saß auf dem Stein und schaute landeinwärts. Hennerk hatte die Frau noch nie zuvor gesehen und wusste nichts zu sagen.

„Du bist ein Fischer“, sagte die Frau endlich. „Du solltest hinausfahren und das Meer kennenlernen, anstatt hier herumzulaufen.“
„Ich kenne das Meer. Es ist keines Mannes Freund.“
„Das sagst du, weil du es nicht kennst“, zürnte sie, und ihre grünen Augen funkelten bedrohlich. „Hat das Meer dir nicht das Leben zurückgegeben?“
„Und wenn es das nur tat, weil es mir mein Leben beim nächsten Mal nehmen will?“, fragte Hennerk.
„Was für ein merkwürdiger Gedanke. Weißt du denn nicht, dass der Kuss des Meeres stets kühl ist?“

Mundala rutschte von dem Felsen hinunter, umarmte Hennerk und küsste ihn.

Von da an lebten Hennerk und Mundala zusammen. Die Dorfleute nannten sie die Hexe aus dem Meer. Daran änderte sich auch nichts, als die beiden den Segen der Kirche erhielten. Hennerk fuhr wieder hinaus, Mundala kümmerte sich um das Haus und die Kinder. Am Sonntag gingen sie in die Kirche, und wenn eines der Feste gefeiert wurde, das sich nach der Sonne richtete, dann tanzten sie gemeinsam, sangen und lachten.

Aber Mundala war nicht wie die anderen Frauen. Sie blieb nicht, wie es sich gehört hätte, in der Fischerhütte. Stattdessen betrat sie ungefragt fremde Hütten, wenn die alten Frauen ihre Geschichten erzählten, oder blieb tagelang weg. Dann zog sie herum wie das fahrende Volk, durchstreifte die Wälder, besuchte landeinwärts die reichen Bauern auf ihren fetten Böden oder erklomm die Gebirgspfade, die nur die Ziegenhirten kannten.

Dann wieder saß sie lange auf ihrem Felsen, und es sah aus, als hielte sie Zwiesprache mit den Wellen. Es war Hennerk, der sie vor dem schlimmsten Gerede bewahrte, aber er verlor dabei die letzten Freunde, die er noch besaß.

Und jeden Tag ging die Sonne auf und wieder unter. Hennerk bekam graue Haare, seine Söhne nahmen sich Frauen aus dem Nachbardorf und bauten sich eigene Hütten. Ob Mundala auch graue Haare bekam, wusste niemand zu sagen, denn ihr Blond war beinahe weiß und schimmerte grau, grün oder manchmal sogar ein wenig blau, ganz nach der Laune des Tageslichtes.

„Ich habe noch einen langen Weg vor mir“, sagte Mundala eines Tages zu Hennerk und Hennerk antwortete:
„Ich wollte immer gemeinsam mit dir alt werden, aber ich wusste vom ersten Augenblick an, dass meine Zeit mit dir nur geborgt war. Nur wer sie mir geborgt hat, das habe ich nie herausbekommen.“

„Ich komme wieder, wenn es an der Zeit ist“, sagte sie und ging.

Hin und wieder erzählten Fremde von einer jungen Frau mit weißen Haaren, die die Sehnsucht vieler Männer beflügelte, sich aber nie fangen ließ. Man erzählte von ihr in den Bergen und in den Wäldern, an den Herdfeuern der Hirten und in den guten Stuben der Handwerker, aber die meisten Geschichten kamen von der Küste, wo eine Frau auf das Meer hinausblickte und die Wellen um ihre Füße spielen ließ.

Hennerk sah seine Frau noch ein einziges Mal wieder. Das war, als sie seine Hand hielt, bis er sie nicht mehr spürte. Das war auch das letzte Mal, dass Mundala irgendwo gesehen wurde. Was die Legenden aber zu wissen scheinen, ist, dass sie nicht ins Meer zurückgekehrt ist, denn immer noch hält das Meer Ausschau nach ihr. Zweimal an jedem Tag laufen die Wellen weit den Strand hinauf, um sie zu suchen. Und zweimal an jedem Tag ziehen sie sich wieder weit zurück, um zu berichten, was sie gesehen haben und was nicht.

Erst staunten die Menschen, aber dann fanden sie einen Namen für das rätselhafte Verhalten des Meeres.

Letzte Aktualisierung: 18.12.2013 - 20.06 Uhr
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