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Halb und halb | Dezember 2013

Digger, Fiepsa, Mauli und das Ende der Wurst
von Klaus Freise

Digger Dachs stand mit den Vorderpfoten an dem Fensterbrett und spähte in die Wohnstube der Menschen.
„Sieht gut aus, richtig behaglich. Kommt rauf.“
Das ließ sich Fiepsa Mausetochter nicht zweimal sagen. Wie ein Wirbelwind rannte sie über den Rücken von Digger nach oben.
„Wow, seht euch mal die ganze Deko an“, fiepte sie. Dabei starrte sie durch die Scheibe und besah sich mit glänzenden Knopfaugen den festlich geschmückten Weihnachtsbaum.
Vom schneebedeckten Rasen unter ihnen war ein beleidigtes Räuspern zu vernehmen.
„He ihr da. Und was ist mit mir?“ Darauf drehte Digger den Kopf nach unten.
„Ach Mauli. Okay, du musst weiter nach links, ja so ist gut und jetzt zieh dich an meinem Schwanz auf meinen Rücken, von da immer geradeaus.“
„Ist gar nicht so einfach. Ihr könntet ruhig auf mich warten.“
Mauli der Maulwurf kam keuchend den Rücken herauf.
„Warum haben wir ihn nochmal mitgenommen, Fiepsa?“, flüsterte der Dachs.
Fiepsa rückte dichter an den massigen Kopf des Dachs heran und zischte:
„Naja, er ist fast blind wie ein, äh… aber er hört besser als wir alle zusammen. Das könnte nützlich sein.“
Mauli plumpste zwischen die beiden. „Das hab ich gehört. Genau, ich bin sehr nützlich für unseren Plan. Wir haben doch einen Plan oder, Fiepsa?“
Die Maus hatte jetzt ihren Kopf ganz dicht vor die Scheibe gedrückt und flüsterte verzückt:
„Ich sehe den Esstisch, eine Frau mit Schürze stellt dampfende Gefäße auf den Tisch. An dem Weihnachtsbaum hängen kleine goldene und rote Kugeln und leckere Keksfiguren. Da steht … das glaubt ihr nicht, ein Teller mit Nüssen. Von dem ganzen Futter können die uns locker die Hälfte abgeben.“ Der Dachs rutschte mit dem Kopf zur anderen Fensterseite und murmelte:
„Sogar ein Brett mit Schinken und Wurst steht da, sehr lecker. Das spannendste hast du aber übersehen, Fiepsa. Den Teller mit den gelben Würfeln, da, ganz am Ende des Tisches.“ Sofort sprang die Maus über Mauli hinweg auf Diggers Kopf.
„Tatsächlich“, japste sie und einige Speicheltropfen fielen von ihren Barthaaren.
Mauli quietschte mit seiner Nasenspitze hastig über die Scheibe.
„Wo, wo, ich sehe nichts.“
„Ach Mauli“, seufzte der Dachs.
Mauli hielt einen Moment inne und sagte dann:
„ Lasst mich mal hören.“ Er legte seinen Kopf an die Scheibe und flüsterte. „Es gibt sogar Insektenkuchen und Würmer.“
„Insektenkuchen?“, fragte die Maus.
„Würmer?“, fragte der Dachs.
Mauli wedelte mit der Pfote. „Ja, die Frau hat zu einem Kind gesagt, dass es als Nachtisch Bienenstich gibt, und die Tüte mit den Würmern gibt es nicht vor dem Essen.“

Der Maulwurf rückte von der Scheibe ab. „Leute, wir müssen da rein.“
„Klare Sache“, sagte die Maus.
„Abgemacht“, bestätigte der Dachs.
Alle sahen sich schweigend an.
Dann starrten sie wieder durch die Scheibe.
„Man bräuchte einen Plan“, seufzte die Maus. „Klingeln können wir ja schlecht.“
„Hmm“, machte der Dachs. „Irgendwo kommen die leckeren Sachen ja her.“
Im festlich beleuchteten Wohnzimmer trugen die Frauen weitere Speisen an den Tisch. Suppenterrinen, Fleischplatten mit Braten und Bauchspeck und auf einem silbernen Tablett, eine gebratene Gans. Die Kinder saßen und knieten vor dem Weihnachtsbaum und bestaunten die vielen bunten Geschenke.
Mauli hatte sich wieder ans Fenster gepresst. „Natürlich. Die Frau sagte, es steht noch mehr in der Küche. Wir müssen in die Küche.“
„Nein, da kommen nur die gekochten Sachen her, die schmecken nicht“, gab der Dachs zu bedenken.
„Außerdem sind in der Küche immer Menschen, sogenannte Köche, und die hassen Mäuse“, versetzte Fiepsa.
Mauli war ganz mit Lauschen beschäftigt und flüsterte: „Sagt mal, was ist ein Brutus?“
„Brutus?“, fragte der Dachs.
„Ja, jemand hat gesagt, dass Brutus beim Essen draußen bleiben muss.“
Der Dachs ruckte mit dem Kopf herum. „Oh nein, sie haben einen Hund.“
Der Maulwurf rutschte dichter an den Dachs. „Ist Brutus ein großer oder eher ein kleiner Name?“
„Eher ein großer“, seufzte der Dachs.
„Puh, wenigstens keine Katze“ , seufzte Fiepsa.
„Der Keller. Wir müssen in den Keller“, schnappte Mauli. „Jemand hat gesagt, es steht noch mehr Wurst im Keller.“ Der Maulwurf war ganz aufgeregt und wäre beinahe vom Fensterbrett gefallen.
„Also dann suchen wir den Keller, vielleicht gibt es eine Speisekammer.“ Der Dachs streckte sich und stupste Fiepsa an. Die Maus sprang auf den Kopf des Dachses und kugelte jauchzend den Rücken hinunter. Digger richtete den Schwanz auf und im hohen Bogen flog die Maus in den Schnee. Sie prustete: „Jetzt du, Mauli.“ Der Maulwurf nahm Anlauf, verfehlte den Dachs und plumpste von der Fensterbank.
„Oh Mann, Mauli“, sagte der Dachs. „Vielleicht klappt es ja nächstes Jahr.“ Dann schob er seine lange Schnauze vorsichtig unter den benommenen Maulwurf und legte ihn behutsam auf seinen weichen Rücken.
Gemeinsam umrundeten sie das Haus. Plötzlich richtete Mauli seine Nase auf und flüsterte:
„Seid mal still, ich rieche was.“


„Oh ja, es riecht nach Wurst“, bestätigte Fiepsa. Digger sah ein Stück voraus ein gekipptes Fenster, aus dem der köstlicher Duft entgegen kam.
„Da hängen ja Würste unter der Decke und Kuchen direkt vor dem Fenster. Mmh, lecker.“
Digger war ein Stück weiter gelaufen und sagte: „Hier sind Stufen und eine Kellertür mit einer Klappe.“
Fiepsa erstarrte. „Eine Klappe, was für eine Klappe?“ Sofort rannte sie zum Dachs.
„Oh, mein Gott, seht ihr das? Eine Katzenklappe. Wisst ihr nicht, was eine Katzenklappe bedeutet ? Was glaubt ihr, was da rauskommt, etwa eine Horde Gänse?“
Der Dachs versuchte sie zu beruhigen: „Ganz ruhig Fiepsa, ich bin ja bei dir.“
„Ruhig, ich soll ruhig bleiben?“ Die Maus war so aufgeregt, dass ihre kleinen Augen weit aus dem Kopf standen.
„Habe ich schon erwähnt, dass der schwarze Kater Mikesch meine halbe Verwandtschaft gefressen hat.“
„Fiepsa.“
„Es war in einer kalten Novembernacht …“
„Fiepsa“, riefen Digger und Mauli gleichzeitig.
„Äh, okay, lass uns zum Fenster gehen, vielleicht komme ich durch den Spalt.“
Gemeinsam schlichen sie zurück. Fiepsa und Digger gelang es, in das Fliegengitter ein Loch zu beißen, und die Maus schlüpfte durch das gekippte Fenster.
Fiepsa trippelte über das Fensterbrett und streckte den beiden die Zunge raus.
„Ätschi, bätschi, das ist jetzt alles meins.“
Digger schüttelte den Kopf. „Sehr witzig, Fiepsa, sieh lieber nach, ob du das Fenster ganz aufkriegst.“
„Ja, hier oben ist ein Haken, wenn ich den aufkriege, könnt ihr das Fenster ganz aufdrücken. Moment.“ Doch gerade als Fiepsa an dem Haken zerrte, rief Mauli:
„Vorsicht, ich höre Schritte im Keller, da kommt jemand.“ Sofort zog Digger den Kopf zurück. Fiepsa ließ sich von der Fensterbank fallen und stürzte auf den Bienenstich. Im selben Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und eine dicke Frau mit einer weißen Schürze kam herein. Schnaufend stemmte sie die Hände in die Hüften und sah sich suchend um. Dabei murmelte sie: „Hm, wo ist denn jetzt …?“ Fiepsa versuchte sich noch tiefer auf die bereits knackende Mandelschicht zu drücken, ihr kleines Herz hämmerte, dabei dachte sie: „Bitte, nicht den Kuchen, nicht den …“
„Ah, da ist er ja.“ Die Frau griff eine Flasche aus dem Regal, besah sich das Etikett, nickte zufrieden und schlurfte wieder aus der Kammer.
Fiepsa, Digger und Mauli stießen die angehaltene Luft aus.
Fiepsa sprang zurück auf das Fensterbrett.
„Das war echt knapp, Fiepsa. Jetzt los, kletter an den Haken, Mauli hilft dir.“
Gemeinsam gelang es den beiden, endlich das Fenster zu öffnen. Digger schob sich hinein und schnupperte.
„Einfach unglaublich, Würstchen, Schinken und Kuchen, alles da. Los Fiepsa, die Wurst an der Stange zu erst.“ Digger setzte Mauli auf dem Kuchentisch ab und stellte sich auf die Hinterbeine. Dann lief Fiepsa mit Schwung über Diggers Rücken und sprang von dessen Kopf an die Stange mit den Würstchen. Elegant trippelte sie über ihren Köpfen von Wurst zu Wurst und kommentierte:
„Nö, zu klein. Puh, stink nach Knoblauch. Igitt, mit Pfeffer, geht ja gar nicht.“
Mauli hatte inzwischen die Nase in den Bienenstich gesteckt. „Von wegen Bienen, hier sind nicht einmal Larven drin.“
Digger unterbrach sie: „Los jetzt, Fiepsa, knapper die Fäden durch, ich fange auf. Mauli, komm wieder auf meinen Rücken und hilf mir.“
Fiepsa hatte schnell den Bogen raus und Digger fing die Würstchen in der Luft, warf sie dann im hohen Bogen aus dem Fenster.
Mauli erbeutete einen Beutel Nüsse und schob einen kleinen Schinken ins Freie.
Gerade wollte Fiepsa den Faden einer geräucherten Mettwurst durchbeißen, als Digger das Nackenfell sträubte und die Zähne fletschte. Fiepsa schrie von oben: „Die Frau hat die Tür auf gelassen! "
In der Tür stand Brutus.
Brutus hatte diesen Raum noch nie betreten. Immer wurde er fortgejagt, aber dieses eine Mal war die Tür nicht verschlossen. Er wollte sich gerade todesmutig auf den knurrenden Dachs stürzen, als etwas Seltsames mit ihm geschah. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Ein Dachs in Angriffsposition. Eine Maus auf der Stange. Eine fette, lecker duftende Mettwurst am Bande. Die Entscheidung fiel. Die Wurst musste gerettet werden. Aus dem Stand schnellte sein magerer Pinscherkörper hoch und verbiss sich in das Ende.
Digger starrte Fiepsa an. Fiepsa nickte. „Los, durch die Katzenklappe, Digger. Ich hau durch das Fenster ab.“
Digger sah zu Mauli, der schnüffelnd an der Tischkante stand. Fiepsa verschwand durch das Fenster.
„Okay, Mauli, ich stehe unter dem Tisch. Du musst weiter nach links, nein, das andere Links. Ja, jetzt spring!“
Brutus sah aus den Augenwinkeln, an der Wurst hängend, wie der Dachs mit einem Maulwurf auf dem Rücken aus der Kammer lief. Am Fenster stand eine Maus und rief: „Ätschi, Bätschi.“ Und von oben hörte er die Stimme seines Herrchens: „Brutus, bist du etwa in der Speisekammer, na warte, Bursche.“ Da kam ihm die Erkenntnis, das Weihnachten für ihn diesmal nicht gut gelaufen war.

Letzte Aktualisierung: 27.12.2013 - 18.00 Uhr
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