Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Eva Fischer IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Kaltes Licht | Januar 2014
Spieglein, Spieglein an der Wand
von Eva Fischer

Nora ist 60, ihre Tochter 30 Jahre jünger.
Beide sind brünett, auch wenn Nora mit etwas Farbe aus der Tube nachgeholfen hat, die Silberfäden zu vertuschen.
Beide machen eine gute Figur, was nicht ohne eiserne Disziplin geht. Nora sucht drei Mal die Woche ein Fitnessstudio auf, die Tochter findet ausreichend Bewegung durch das Berufsleben. Sie arbeitet in einer Werbeagentur und achtet darauf, dass ihr Chef alle Termine einhält, was trotz mobiler Technik ihren ganzen Körpereinsatz fordert.

Einmal im Monat treffen sich beide zu einem Damen-Date. Sie gehen ins Kino oder schwitzen in der Sauna, damit die Tochter Dampf ablassen kann über die Unberechenbarkeit ihres Chefs. Manchmal gehen sie auch Shoppen, weil der Klassiker „ich kaufe mir was, kaufen macht so viel Spaß“ von Herbert Grönemeyer durchaus bei ihnen Gehör findet.

Der Januar ist ein öder Monat. Der Glanz der Weihnachtslichter ist verblasst. Früher gab es mal Schlussverkauf, wie sich Nora noch erinnert, aber auch heutzutage locken Sonderangebote, um den Kundinnen nachweihnachtliche Events zu bescheren.
So treffen sich beide in Moers am Niederrhein, um die Angebote des ersten Kaufhauses am Platze in Augenschein zu nehmen.

Die Silvesterkleider hängen wie Mauerblümchen an der Stange. Der Winter wollte bisher noch nicht recht in Fahrt kommen. Deshalb gibt es Pullis und Winterjacken zum halben Preis.
Auch die Stiefel à la Pretty Woman haben keinen Absatz gefunden, obwohl sie mittlerweile selbst im heißen Sommer getragen werden können und daher nicht saisonalen Einschränkungen unterliegen.

Nora hat für Februar zwei Wochen Karibik gebucht. Ihr Teint lechzt nach natürlicher Farbe außerhalb der Sonnenstudios. Ein neuer Bikini fällt daher genau in ihr Beuteschema, der jedoch nicht so einfach zu finden ist, denn momentan haben Winterartikel Vorrang. Eine freundliche Verkäuferin holt ihr ein paar Modelle aus dem Lager und breitet sie vor ihr aus. Ingwergelb, Quittenrot, Taubengrau. Zum Glück ist kein Rentnerbeige dabei, denkt sie und hätte gern Schokobraun, damit Bikini und gebräunter Körper eine einheitliche Phalanx bilden, um dem männlichen und weiblichen Betrachter Bewunderung oder Neid abzutrotzen.

„Das Taubengrau lässt Ihre Augen wie Diamanten strahlen“, säuselt die Verkäuferin.
Nora schaut sie misstrauisch an, aber sie will es auf einen Versuch ankommen lassen und eilt gefolgt von ihrer Tochter zur Umkleidekabine. Sobald sie den Vorhang beiseiteschiebt, überflutet sie grelles Licht, dringt gnadenlos in ihren Körper, macht ihn transparent wie Röntgenstrahlen.

Ihr sorgfältig geschminktes Gesicht gleicht einem zerknüllten Blatt Papier. Um den Hals zeigen sich Furchen wie die Jahresringe einer Baumrinde. Die Oberarme hängen sackartig herunter, als ob sie nicht wöchentlich von ihr trainiert würden. Dunkelblaue Besenreiser schlängeln sich wie Blutegel durch die sonst formschönen Beine. Auf der Haut treiben braune Flecken ihr Unwesen, die an rostige Pilze erinnern.

Aus den Augenwinkeln erkennt Nora den entsetzten Blick ihrer Tochter, als habe sie soeben der Enthüllung einer Mumie beigewohnt.
„Ihre Bikinis gefallen mir nicht“, raunzt Nora die Verkäuferin an. „Ich denke, ich schaue mich lieber mal woanders um.“
Nachdem sie sich wieder angezogen hat, verlässt Nora mit ihrer Tochter fluchtartig die Kabine und das Kaufhaus.

Sie gehen in das nah gelegene Schlosscafé, wo warmes Licht wieder Noras Aussehen schmeichelt. Sagen die Leute denn nicht, sie könnten Schwestern sein? Eine heiße Tasse Tee verleiht ihr einen rosigen Teint und bringt ihr die alte Contenance zurück.

„ Das Licht eben hat dich richtig blass gemacht, Liebes“, wendet sie sich an ihre Tochter.
„Ich denke, du solltest dringend entspannen. Es könnte nichts schaden, wenn du mich in die Karibik begleitest.“
Mit den lackierten Fingernägeln schnipst sie einen unsichtbaren Faden vom Pulli ihrer Tochter.





Letzte Aktualisierung: 15.01.2014 - 23.08 Uhr
Dieser Text enthält 3929 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.