Ganz schön bissig ...
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Kaltes Licht | Januar 2014
Blitz-Schlag
von Monika Heil

Ich schwebe.
Ich schwebe regungslos in einem Meer der Leere.
***
Als die negative Ladung der Wolken auf die Erde schoss und die positive Entladung von der Erde dorthin zurückjagte, stand ich im Weg dieser blau-kalten Bahn. Ich war mit dem Hund unterwegs. Unser täglicher Spaziergang endete abrupt.

Ein Blitz trägt 10 – 30 Millionen Volt in sich und durchläuft das Blitzopfer in einer tausendstel bis zehntausendstel Sekunde.

1. Juli gegen 11.00 Uhr
Als ich aufwache, liege ich in einiger Entfernung von dem Feldweg, den ich kurz zuvor gegangen bin. Wie lange? Ich weiß es nicht. Bin ich bewusstlos gewesen? Auch das weiß ich nicht. Was ist mit dem Hund passiert? Ich will ihn rufen. Doch kein Laut dringt aus meiner Kehle. Ich fühle mich wie gelähmt, kann kaum atmen. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Sonst höre ich nichts. Meine Gedanken gleichen dunklen Tümpeln im Sand.

Verletzungen durch elektrischen Strom haben oft Kammerflimmern und Hirnschädigungen zur Folge. Unmittelbar nach dem elektrischen Schock ist der Patient meist komatös. Es tritt eine Atemlähmung ein, der Kreislauf bricht zusammen.

Was ist mit mir geschehen? Schlaganfall? Herzinfarkt? Jeder Muskel meines Körpers schmerzt. Warum? Mein Herz schlägt wild und unregelmäßig. Das Leben scheint meinen Körper zu verlassen. Da ist dieser Tunnel. Dunkelheit umgibt mich. Kein Lichtschein leuchtet an seinem Ende. Mit sonderbarer Klarheit erkenne ich, Licht gehört zum Tod. Ebenso wie Dunkelheit.

Ich liege auf kaltem Boden und warte. Worauf? Ich schließe die Augen, gebe all meine Gedanken auf, auch meine Wünsche. Doch mein Körper gibt mich nicht auf.

Als ich die Augen wieder öffne, begreife ich, dass ich nicht tot bin. Mein Überlebensinstinkt ist geweckt. Ich muss handeln, will nicht mehr warten, bis man mich findet. Aufstehen! Nach unzähligen, mühsamen Versuchen gelingt es halbwegs. Laufen! Manchmal tragen mich meine Füße. Meist nicht. Immer und immer wieder stürze ich. Fragmente meines Gehirns helfen mir, meine Beine unter Kontrolle zu bekommen. Langsam, ganz langsam bewege ich mich auf mein Auto zu. Von meinem Hund keine Spur. Ich bin allein. Gänzlich allein.

Später
Als ich das Auto erreicht hatte, konnte ich wieder schreien. Wie ich es schaffte, die Tür zu öffnen, weiß ich nicht. Auch nicht, wie es mir gelang, mein Handy zu finden. Wie ich die Notrufnummer hatte antippen können, ich weiß es nicht. Ich schrie um Hilfe. Dann fiel ich ein zweites Mal in Bewusstlosigkeit.

1. Juli in der Mittagszeit
Als ich wieder zu mir komme, hört ein Sanitäter mein Herz ab. Ein anderer sticht eine Infusionsnadel in meinen Arm. Ihre professionelle Hilfe hüllt mich ein. Sie schnallen mich auf einer Trage fest und transportieren mich zum Krankenwagen. Eine fremde Stimme sagt: „Ich kümmere mich um den Hund.“ Meine Frage hört niemand. Ich erhalte dennoch eine Antwort. „Er hat offenbar unter dem Auto Schutz gesucht.“ Über uns entlädt sich ein Gewitter. Blitze jagen ihr eiskaltes Licht durch die Atmosphäre. Diesmal stehe ich nicht im Weg.

Glücklicherweise schlägt mein Herz wieder in einem erträglichen Rhythmus. Eine statistische Zahl scheint sich wieder um ein Menschenleben zu erhöhen.

1. Juli nachmittags
Die Ärzte diagnostizieren Gehirnerschütterung, gebrochene Rippen und Kiefernbrüche sowie Blitzlähmung in Brust und Hals. Lichtenberg-Blumen – Verästelungen, die der Elektronenregen ähnlich Verbrennungen auf der Haut hinterlässt, bedecken den ganzen Körper.

Obwohl ich nur schwach sehen und wieder nicht mehr sprechen kann, funktioniert mein Gehör einwandfrei. Überdeutlich höre ich jedes Wort. Einer der Ärzte sagt: „Ich fühle kaum einen Puls.“ Es ist dunkel um mich herum. Nicht schwarz, eher grau – wie Nebelschwaden. Undurchdringlich. Schließlich liege ich im Bett – ein mumifiziertes Etwas, fest zusammengeschnürt, zu keiner Bewegung fähig.

2. Juli
Ich lebe. Einmal gleite ich auf einer Straße von unendlicher Schwere von einer schwarzen Pfütze in die nächste. Dann wieder sitze ich in einem düsteren Kokon. Wellen der Formlosigkeit umspülen mich. Ich habe den Wunsch, gehalten zu werden, kann ihn nicht artikulieren.

Ob jemand Verbrennungen davonträgt oder nicht, hängt von der Dauer des Blitzschlags ab. Ein ´kalter Blitz´ ist der erste Schlag, der viel weniger heiß ist und viel kürzer im Körper bleibt als der ´Rückschlag` vom Boden zurück zur Wolke.

4. Juli
Sie sollen mich wieder zu einem Ganzen zusammenfügen, verlange ich. Mein Arzt verspricht es. Ich glaube ihm nicht.
Ich frage nach meinem Hund. „Es geht ihm gut.“ Das beruhigt mich.

10. Juli
Ich will das Leben wieder kosten. Nur wie? Bin ich doch schon mit Beißen und Kauen zur Nahrungsaufnahme überfordert.
„Geduld“, sagen die Ärzte.

Bei Unfällen durch Naturphänomene spielt Blitzschlag als Todes- oder Verletzungsursache eine bedeutende Rolle mit meist verheerenden Folgen. Fast jedes Organsystem kann in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn elektrischer Strom durch den menschlichen Körper fließt. Die Gesamttodesrate bei einem Blitzschlag liegt bei 30 Prozent. Die Krankheitsrate bei den Überlebenden ist 70%.

30. Juli
Mein zweites Leben beginnt. Ich treibe von einem Atemzug, von einem Herzschlag zum anderen. Ein langer, langer Weg liegt vor mir. Meine Genesung geht nicht ohne Rückschläge ab. Was wie ein steter Genesungsprozess aussieht, ist Illusion. Es gibt nur ein langsames Vorwärtsschlurfen und dazwischen immer ein paar Schritte zurück.

Unter einem Post-Elektroschock-Syndrom versteht man Depressionen, Angstzustände, Panik, Gedächtnisschwund, Übervorsichtigkeit, Ruhelosigkeit – Zustände, die über Jahre anhalten können.

30. September
Ich schwebe.
Ich schwebe regungslos in einen Meer der Zuversicht.
Ich werde versuchen, mit gestutzten Flügeln zu fliegen.
Irgendwann.

Letzte Aktualisierung: 19.01.2014 - 12.04 Uhr
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