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Kaltes Licht | Januar 2014

Energie
von Klaus Eylmann

Ihr Blick ist kalt.
„Gerda.“ Der Mann sitzt auf einem Bürostuhl.
„Gerda, sieh auf den Tisch. Ich will die Arbeit zu Ende bringen.“
Das Licht ihrer Augen erhellt einen Teil des Schreibtisches. Der Mann beugt sich über Zahlen.
Wie zu sich selbst sagt er: “Gerda, gib mir Kraft. Du bekommst den Saft.”
Gerda schüttelt sich und scheppert am ganzen Körper. Lacht sie?
Der Mann heißt Herbert. Ein Nerd. “Den aus der Steckdose”, legt er nach. Gerda hört nicht auf zu scheppern.

Herbert hat Gerda aus silbrig glänzenden Ofenrohren zusammengesetzt. In das oberste sind zwei Löcher gefräst, aus denen ihre Augen strahlen. Auf der anderen Seite des Rohres befindet sich ein Knopf zum Ausschalten. Sie ist um die zwei Meter groß. Wo nun ihr schepperndes Lachen herkommt, ist ihr Geheimnis. Wieso sie nicht in sich zusammenfällt, ist seins.

Am Anfang war ein Staubsauger. Herbert hat Gerda drum herumgebaut, mit Blech und elektronischen Bauteilen vom Laden um die Ecke. Besitzt Gerda ein Bewusstsein, einen eigenen Willen? Herbert ist sich nicht sicher. Und was will sie? Staubsaugen. Herbert hat sie so programmiert. Auf vier Kinderwagenrädern rollt sie dahin und reinigt Herberts Teppichboden. Vor Wochen noch stieß sie sich an Couchtisch, Sofa, Stehlampe und Bücherschränken. Dann flackerte ihr Blick, bekam einen Stich ins Rötliche und Herbert ahnte, dass Gerda ungehalten war.

Nun ist Herberts Wohnzimmer leer, bis auf einen Schreibtisch, ein paar Bücher darauf, eine Tischlampe, die er anschaltet, wenn Gerda durch sein Zimmer kurvt, ihren Blick nach vorn richtet. Dann ein Drehstuhl, auf dem Herbert sitzt, Gerda beim Staubsaugen zusieht oder sich in seine Berechnungen vertieft.

Anna, seine Verlobte, die sich bei Verwandten im Ausland aufhält, wäre von diesem Wohnzimmer nicht begeistert. Doch wer ist wichtiger? Anna, die in der weiten Welt herumreist, oder Gerda, die jeden Tag bei ihm Staub saugt? Denkt er an Anna, kommt ihm deren Mutter in den Sinn, die angedroht hat, ihn zu besuchen.

Dann passiert es: Eine Fliege krabbelt auf der Wand. Gerda rollt auf sie zu. Das hellgelbe Licht ihrer Augen färbt sich rot. Zwei Strahlen schießen aus ihnen hervor, treffen sich auf dem Insekt, das sich unter dem Lichtgewitter auflöst.

„Donnerwetter.“ Herbert lässt die Kinnlade fallen. Wie hat sie das gemacht? „Gerda, wirst du mich schützen? Vor Regen, Eis, Insekten, Pfützen?“ Gerda dreht sich zu Herbert und scheppert vor Lachen. Herbert steht auf und sieht aus dem Fenster. Es wird dunkel. Laternen werfen mattes Licht auf Straße und Bürgersteige. Eine Seitenstraße. Neben dem Friseurladen unter Herberts Wohnung befinden sich ein Gebrauchtwagenhändler, ein Waschsalon und ein Textilgeschäft, in dessen Schaufenster unbekleidete Puppen auf die Mode der neuen Saison warten. Die Geschäfte haben geschlossen.

„Zeit für unseren Spaziergang“, ruft Herbert, öffnet Gerda die Wohnungstür. Sie nehmen den Fahrstuhl. Dann rollt Gerda neben Herbert her. Trübes Licht der Augen umspielt den Zylinder ihres Kopfes.

Es ist nicht weit bis zum Hafen. Die Straße führt direkt daran vorbei. Silhouetten einiger Kräne heben sich gegen das Licht des Mondes ab. Der Schall lärmender Glocken hämmert von den Kirchen der Innenstadt herüber. Ein Betrunkener torkelt auf Herbert und Gerda zu.

„Wat isn dat? Mann mit Röhre! Hehe!“
„Das ist Gerda!“, ruft Herbert ungehalten.
„Gerda!“, kichert der Mann, rülpst und hebt einen Stein auf, um ihn auf Gerda zu schleudern. Er trifft Herbert.
„Gerda, wir gehen auf die andere Straßenseite.“ Gerdas Augen flackern, werden rot. Zwei Blitze schießen aus ihnen, treffen den Mann, der ohne ein Wort zu sagen in sich zusammenfällt. Übrig bleibt ein Haufen Staub. Das Licht Gerdas Augen irisiert darüber hinweg, dann ist auch der Staub verschwunden.

Herbert schluckt. Sein Nacken wird steif, er bekommt eine Gänsehaut und sieht sich um. Auf der Straße ist niemand. Und wenn es jemand durch das Fenster gesehen hat? Herbert bildet sich ein, dass die Straßenbeleuchtung rötlicher scheint und zwingt sich zur Ruhe. Er geht weiter. Gerda schüttelt sich und rollt hinter ihm her. Lacht sie? Das Gelb ist in ihre Augen zurückgekehrt.

Herbert dreht sich um. „Wir sollten nach Haus gehen.“ Auf dem Weg dorthin fragt er sich: Wo ist der Staub? Es gibt doch dieses, wie heißt es noch? Dann fällt es ihm ein: Energieerhaltungsgesetz. Energie verschwindet nicht, irgendwo steckt sie. Energie, die menschliche Zellen zusammen hält. Energie, die vermeidet, dass Menschen sich als glibberige Masse auf dem Boden ausbreiten. Energie, die Motorik und die Informationsverarbeitung des Gehirns alimentiert.

Später liegt Herbert im Bett. Es ist elf Uhr abends und Gerda geht ihrer Arbeit nach. Schon längst hätte sie an der Steckdose hängen müssen. Ihr Energieüberschuss... . Es ist das erste Mal, dass sich Herbert im Schlafzimmer eingeschlossen hat, obwohl er weiß, dass Gerda es nie berollen würde. Er hat sie so programmiert. Doch was ist, wenn Gerda auf den Geschmack gekommen ist, sich Energie auf die Weise zuzuführen, wie sie es an diesem Abend gemacht hat? Herbert steigt aus dem Bett, reißt die Tür zum Wohnzimmer auf und ruft hinein: „Morgen ist das Wetter schön, kommt durch das Spazierengehn.“ Gerda lacht und Herbert zieht sich zurück.

Ihm ist nicht nach Einschlafen zumute. Gerdas Motor summt. Wie lange noch? Der Ausschaltknopf! Herbert springt aus dem Bett, geht auf Zehenspitzen zur Wohnzimmertür, öffnet sie vorsichtig und wartet, bis Gerda an ihm vorbeigerollt ist. Der Knopf steckt auf der Rückseite der oberen Röhre. Herbert schleicht sich an sie heran. Gerda stoppt. Der Motor verstummt und die Röhre dreht sich so, dass Gerdas Augen Herbert anstarren. Gelb, kalt. Sie färben sich ins Rötliche, beginnen zu flimmern. Schweißausbruch, Schauer, Herzrasen, steifer Nacken, pure Angst. Herbert wird schwarz vor Augen. Als er wieder aufwacht, merkt Herbert, dass er auf dem Wohnzimmerboden liegt und Gerda um ihn herum saugt. Ein paar Minuten bleibt er auf dem Boden, dann rappelt er sich auf und geht ins Schlafzimmer zurück. Dort wirft er sich aufs Bett und denkt nach. Schaltet er den Strom aus, wird Gerda sich ihre Energie auf der Straße besorgen. Er muss fort. Mit diesem Gedanken schläft er ein und wacht am nächsten Morgen wieder auf. Er zieht sich an und macht sich reisefertig. Sein Handy klingelt.
„Herbert!“ Annas Mutter. Ihm steigen die Haare zu Berg. „Ich bin gerade in der Gegend. Ich komme hoch zu dir. In fünf Minuten bin ich da.“
Schafft er es, vorher wegzukommen? Notebook, Autoschlüssel, Kreditkarten, Reisepass und -tasche mit Schlafanzug, Sandalen, Unterwäsche, Waschzeug. Was vergessen?

Er hört Summen. Gerda. Herbert hängt sich die Tasche um und stürzt zur Wohnungstür. Es klingelt.
Annas Mutter steht vor der Tür. Herbert rennt an ihr vorbei und ruft: „Geh ins Wohnzimmer. Ich bin gleich wieder da!“
Er hört sie rufen. Dann sitzt er in seinem Wagen und lenkt das Fahrzeug Richtung Autobahn. Er sieht einen McDonald. Dort setzt er sich hin mit einem Becher Kaffee. Er fühlt sich frei. Annas Mutter war eine energische Frau. Nun ist sie pure Energie. Herbert spürt kein Mitleid, keine Genugtuung. Soll er sich beim Ortsamt abmelden? Besser nicht. Wenn Gerda die ersten Polizisten und Feuerwehrleute verstrahlt hat, wird man denken, ihm sei das Gleiche zugestoßen.
Er setzt sich in seinen Wagen und fährt weiter.


Version 2

Letzte Aktualisierung: 17.01.2014 - 21.43 Uhr
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