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Kaltes Licht | Januar 2014

Das Haus gegenüber
von Susanne Ruitenberg

Das erste Mal sah Paul das Licht, als er mitten in der Nacht auf die Toilette musste und auf dem Weg ins Bad einen Blick aus dem Flurfenster warf. Jahrelang hatte das düstere Backsteinhaus am Ende der Straße leer gestanden, niemand es seit dem Tod des alten McIvern betreten.
Jetzt leuchtete etwas dort drüben. Die ungewohnte Helligkeit quoll regelrecht aus den Ritzen der Fensterläden und unter der Tür hindurch. Pauls erster Gedanke war, brennt es?, doch es flackerte nicht, sondern strahlte konstant. Auch die Farbe passte nicht zu Feuer. Dieses Licht sah anders aus. Weiß. Kalt. Und dabei wirkte es erschreckend lebendig.
Mindestens zehn Minuten lang stand er am Fenster und starrte das Haus an. Bis der gespenstische Schein erlosch. Kurz erwog er, nachsehen zu gehen, dachte an den Nachtfrost und ging ins Bett.
Am nächsten Morgen fragte er sich, ob er das Ganze erlebt oder nur geträumt hatte und vergaß es bald.
Eine Woche später kam er von einer Party heim zu einer Zeit, in der seine Nachbarn, allesamt ältere Herrschaften, schon lange schliefen. Bereits als er in die Straße einbog, fiel es ihm auf. Das Licht war zurück! Er stellte sein Auto ab und blieb vor der Einfahrt stehen. Aus der Nähe betrachtet wirkte das geheimnisvolle Leuchten noch weißer, kälter. Diesmal überwog die Neugierde. Er schob das morsche Gartentor auf und folgte dem überwucherten Weg zur Haustür. Trockene Blätter knirschten unter seinen Schuhen und manche der brüchigen Betonplatten gaben wenig Vertrauen erweckende Geräusche von sich, wenn er sie betrat. Vor der Tür hielt er einen Moment inne. Pulsierte das Licht nicht? Eindeutig, es schwankte zwischen hell und noch heller, beinahe im Rhythmus eines atmenden Wesens. Unsinn, bei einem solch alten Haus gab es nur marode Leitungen. Das Licht flackerte aufgrund von Stromschwankungen. Eine andere Erklärung konnte er sich nicht vorstellen.
Aber wer hatte es installiert? Räumten Einbrecher die letzten vorhandenen Gegenstände aus, oder hatte ein Nachfahre des Alten den Schuppen geerbt und machte nachts heimlich Inventur oder renovierte?
Und was ging ihn das an? Nichts. Er wollte sich bereits umwenden und nach Hause gehen, doch ein plötzlicher Impuls ließ ihn die Hand ausstrecken, die Tür öffnen und über die Schwelle treten. Erstarrt blieb er stehen. Das Licht erstrahlte so hell, dass er die Augen schließen musste. Nach einigen Augenblicken öffnete er sie einen Spalt und blickte sich vorsichtig um.
Gleißende Helligkeit kroch erbarmungslos in jeden Winkel und machte den ganzen Staub, die Spinnennetze und die Risse in der Tapete überdeutlich sichtbar. Doch wo kam es her?
Paul drehte sich um die eigene Achse. Die alten Lampen waren es nicht. Er tippte an eine der Glühbirnen, die von einem Kabel herabhing. Sie schwang hin und her und Staub rieselte hinab.
In der ersten Etage schien es noch heller zu sein als hier unten. Befand sich die Lichtquelle dort? Und wollte er es wirklich wissen? Er musste seine Füße in Richtung Treppe zwingen, sie wollten lieber umkehren.
Langsam, Stufe für knarzende Stufe, stieg nach oben und fand sich in einem langen Flur wieder. Alle Türen standen offen und aus jedem Raum quoll Licht, es glich einer festen Masse. Er betrat das erste Zimmer auf der rechten Seite und erstarrte. An den Wänden, auf den Möbelresten, überall befanden sich metallische Gebilde, etwa einen Fuß hoch. Der Fuß eine runde Scheibe auf Rädern, aus deren Mitte ein Rohr herauswuchs, das in einen zum Ende hin breiter werdenden Kegel mündete. Aus diesem ergoss sich das pulsierende Licht. Lichtmännchen, war sein erster Gedanke. Im nächsten Augenblick drehten sie wie durch unsichtbare Fäden gezogen ihre Köpfe in seine Richtung. Köpfe, wie kam er darauf?
Die Ersten setzten sich in Bewegung. Blitzschnell schossen sie auf ihn zu und umzingelten ihn. »Wer seid ihr?«, fragte er, bevor er sich der Absurdität der Situation bewusst wurde. Stand er tatsächlich in einem unbewohnten Schuppen und redete mit merkwürdigen Lampenwesen? Er drehte sich zur Tür. Genug gesehen. Es ging ihn gar nichts an, wenn im alten McIvern Haus lebendig gewordene Alien-Lampen meinten, eine Lichtparty feiern zu müssen. Bevor er jedoch die Tür erreicht hatte, formierten sie sich zu einer Reihe und versperrten ihm den Durchgang. Auch gut, er konnte darüber steigen. Kaum hatte er das rechte Bein gehoben, als ein weißer Strahl aus einem der Lichtköpfe schoss. »Au«, entfuhr es ihm und er sprang einen Satz zurück, wieder in den Raum hinein. Sein Hosenbein qualmte. Er bückte sich und hob es vorsichtig an. Auf seiner Haut hatte sich ein roter Streifen eingebrannt. Die Lichtwesen rollten wieder auf ihn zu. Sie wollten ihn gefangen nehmen! Ohne nachzudenken, sprintete er los und setzte zu einem Sprung an, die Lichtblitze ignorierend. Bei der Landung im Flur stolperte er über seine eigenen Füße und schlug der Länge nach hin.
Bevor die Dinger ihn weiter ansengen konnten, rappelte er sich hoch, stürmte aus dem Haus und die Treppe hinunter. Die Lichtwesen folgten ihm. Er sprintete die Straße hinunter. Aus dem Augenwinkel sah er, wie mehrere von ihnen an der Straßenlaterne emporrollten. Er warf sich in sein Auto, verfehlte das Zündschloss, ließ den Schlüssel fallen. Fluchend bückte er sich, hob ihn wieder auf, startete den Wagen und legte den ersten Gang ein.
Auf einmal erklang ein knirschendes Geräusch und vor seinen Augen verwandelte sich die Straßenlaterne in einen Riesenlichtmann. Paul drückte das Gaspedal durch und der Wagen schoss los wie von einem Katapult abgeschlossen.
Mit ohrenbetäubendem Grollen rollten die Räder des Lichtgiganten über den Asphalt, als er die Verfolgung aufnahm.


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.01.2014 - 19.59 Uhr
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