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Kaltes Licht | Januar 2014

Einmal im Monat
von Helga Rougui

Tausend Lichter kreisen durch ihre Träume, die gewebt sind aus Kerzenschein und Klang. Sie träumt Kadenzen, schmelzende Töne. Die fließen wie duftendes Öl bis in die fernsten Schatten der hohen Säle, vervielfachen sich unendlich hinter den Spiegeln, wirbeln die Tänzer zur Quadrille, zum Walzer, zum rauschhaften Sturz durch die Jahrhunderte. Perlende Akkorde, die im strahlenden Lächeln weißer Zähne explodieren, Reigen der Leidenschaften, verhalten und schamlos zugleich, seidige Schultern über festlichen Korsagen, tiefschwarze Fräcke, der Teufel höchstselbst wiegt sich in den Hüften, blutrot netzt der Wein blutrote Lippen und über allem, in allem, vor allem die Musik, die Musik, die Musik ...
--- die kommt von ihr, durch die gewinnt sie Macht über alle, die von ihr ergriffen und getragen werden.

Und sie dachte, dies alles sei für die Ewigkeit.

Einmal jedoch, als sie wie jede Nacht in den grünen Samt zum Schlaf geschickt wurde, ließ man sie lange, sehr lange Zeit nicht mehr erwachen.

Und als man sie weckte, durfte sie nicht klingen.

Man hob sie in ein Licht, das nicht, wie sie es gewohnt war, weich und geschmeidig über ihre honigfarbene Fläche glitt, das sie nicht zum Schimmern brachte, sondern ihr krude sagte: du bist, wie du bist. Ein Stück Holz, nicht mehr.
Aber was für ein Stück Holz.
Das erfuhren die Zuhörer ganz genau, und schon das Erstgebot setzte ein Zeichen. Kleine Schilder hoben sich in den Reihen, Zahlen wurden genannt, nicht laut, aber bestimmt, immer schneller, immer größer, bis einige Bieter fast atemlos aufgaben und am Ende der dritte Hammerschlag ihr neuerliches Schicksal bestimmte.

Sie aber, die nun wußte, was für ein wertvolles Stück Holz sie war, wurde ungespielt zur Ruhe gebettet.
Ihr neuer Besitzer hatte gekauft: den Ruhm des Baumeisters, die Patina der Jahrhunderte, die sie hatten reifen lassen wie zu einem schweren alten Wein, die Legende, die ihr anhing.
Aber er war nicht Paganini.
Aber auch wenn er nicht Paganini war, hatte er doch Angst um sie. Auch ein bißchen Angst vor ihr.
Und sie trat eine lange Reise an.

Einige Zeit geschah nichts.
Dann aber, eines Tages, sie wußte nicht, ob es Winter oder Sommer war, Konzert-, Redouten- oder Hofballzeit, merkte sie, wie der Kasten, in dem sie ruhte, bewegt wurde.
Hoffnung erwachte, eine unbändige Lust, zu singen mit allen Saiten, ein Auditorium mitzureißen, Tänzer zu tauchen in Schwindel und Glückseligkeit.

Der Deckel wurde geöffnet. Ein Mann nahm die Stradivari vorsichtig heraus und ließ sich auf einem Holzstuhl nieder, mitten zwischen den Kisten und Behältern, die an der nackten Betonwand des Bunkers gestapelt waren. Eine Neonlampe über ihm sendete ihr kaltes, sezierendes Licht.
Der Mann stimmte das Instrument sorgfältig und begann zu spielen, wunderschön. Die Töne kämpften mit der Dumpfheit des fensterlosen Raumes und verloren den Kampf.
Nach einer Stunde - für ihn gut bezahlte Übungszeit – legte er die Geige zurück in den Kasten und verließ das Zollfreilager.

Im allmonatlichen Bericht an den Eigentümer würde auch diesmal stehen: Die Qualität der Wertanlage wurde überprüft und ist gesichert.

Letzte Aktualisierung: 22.01.2014 - 12.45 Uhr
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