Diese Seite jetzt drucken!

Kaltes Licht | Januar 2014

Hathor
von Ingo Pietsch

Ägypten, Tal der Könige, 1920
„Mehr Licht, Marsala! “, sagte Professor Rainwood zu der Wand, an der er gerade mit einem dicken Pinsel arbeitete.
Er heißt Mustafa, korrigierte Lester ihn in Gedanken. Lester seufzte und rief Mustafa auf Arabisch zu, er möge den Spiegel anders halten.
Mustafa war wieder einmal eingenickt. Er schreckte auf und richtete das Sonnenlicht auf die Stelle, wo der Professor mit seiner Arbeit beschäftigt war.
„Lester, ich weiß gar nicht, warum ich dich mitgenommen habe. Eine große Hilfe bist du mir nicht.“ Er drückte dem jungen Mann einen Stein in die Hand und pinselte weiter die Wand ab.
Lester wusste ganz genau, dass der Professor ohne ihn aufgeschmissen war: Rainwood sprach Englisch und konnte perfekt das Altägyptische übersetzen, aber ansonsten waren Fremdsprachen für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.
Lester fragte sich, wie er darauf gekommen war, während er den Stein in einen Korb legte und diesen schulterte. Mustafa war wieder eingenickt und so trug er das Abraummaterial selbst nach draußen.
Lester sprach nicht nur sechs Sprachen fließend, er war auch der Sohn des Geldgebers dieser Ausgrabung. Aber allein aufgrund seiner Sprachfähigkeiten war er für diese Unternehmung die wohl beste Wahl gewesen.
„Malaga!“, hörte er den Professor rufen, der sich oft nicht einmal einfache Namen merken konnte.
Lester schritt den langen verwinkelten Gang nach oben Richtung Tageslicht. Immer wieder passierte er dabei die Spiegel, die in jeder Ecke standen. Die Spiegel waren einfach nur auf Hochglanz polierte Silbertabletts von minderer Qualität, die sie günstig auf einem Basar erstanden hatten, ihren Zweck aber voll erfüllten.
Die Abendsonne stach Lester in die Augen. Er atmete die trockene Luft tief ein und musste husten.
Unten war die Luft auch nicht besser, aber dafür nicht so heiß.
Augenblicklich fing Lester an zu schwitzen. Er kippte den Korb aus und wischte sich seine Stirn mit einem Tuch ab.
Hier lag auch ein Teil der Ausrüstung, unter anderem ein Stapel Fackeln, die sie nicht benutzen konnten, weil es keinen anderen Zugang zur Kammer gab. Sonst wären sie innerhalb weniger Minuten erstickt.
Rainwood suchte die kahlen Wände seit geschlagenen drei Stunden ab und Lester wusste, dass der Professor bald die Geduld verlieren würde. Sie waren vermutlich kurz vor dem Ziel. Deswegen nahm er Hammer, Meißel und Brechstange und packte sie in den Korb, den er sich auf den Rücken warf.
Lester dachte an dieses Buch mit den sieben Siegeln, dass der Professor bei einer Ausgrabung eines Tempels des Sonnengottes Ra gefunden hatte: Goldene, gravierte Platten, die gebunden zu einem Buch und mit Schlössern versehen gewesen waren. Allein der materielle Wert war unvorstellbar, aber der Inhalt war noch weitaus interessanter.
Dort stand geschrieben, dass Hathor, die Göttin der Schönheit und der Liebe, Ras Geliebte, entführt worden war.
Die Untertanen der Götter strebten selbst nach Macht und erpressten Ra, damit er einen Teil seiner Kräfte auf sie übertrage. Die Pharaonendynastien waren geboren. Alle anderen Götter pochten weiterhin auf ihre Vorherrschaft, doch die Widersacher waren in der Überzahl und stürzten ihre Götter. Diese flohen zurück zu den Sternen.
Ra konnte seine Geliebte nicht finden, schwor aber, wiederzukommen.
Aus Angst vor Rache und um die Schönheit Hathors zu erhalten, wurde sie von den Pharaonen gebannt und versteckt.
Sollte sie jemals wieder erwachen, würde dies die Rückkehr der Götter nach sich ziehen. Ihr Zorn würde unermesslich sein.
Lester schüttelte den Kopf über den ganzen erfundenen Schwachsinn.
Er betrat den kühlen Gang wieder. Davon gab es im Tal der Könige hunderte.
Ausgerechnet hier wollte der Professor das Grab der Hathor wissen. Rainwood hatte komplizierte Berechnungen angestellt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass er fündig werden würde. Oder es lag einfach daran, dass sie gleich neben den Tabletts auf dem Basar einen Wandteppich entdeckt hatten, auf dem fast dieselbe Geschichte, wie in dem Buch, zu sehen war. Inklusive einer leider sehr ungenauen Karte.
Folglich war dies auch nicht die erste vermeintliche Grabkammer, die sie untersuchten.
„Mandala!“, schrie der Professor.
Mustafa rappelte ich auf.
„Hier Professor.“ Lester reichte ihm den Hammer.
„Guter Junge! Keinerlei Inschriften. Kein einziger Hinweis. Ich werde einfach mal die Wände abklopfen.“ Nach und nach hämmerte er gegen den Sandstein. Und tatsächlich: An einer Stelle klang es hohl.
Der Professor und Lester sahen sich an und bearbeiteten dann wild die Wand.
Als ein kleines Loch entstanden war, spürten sie einen kühlen Luftzug.
Irgendwo gab es also einen zweiten Zugang. Waren sie zu spät gekommen?
„Matador!“, sagte Rainwood ehrfürchtig.
Der Junge war aufgestanden und leuchtete mit dem Spiegel.
Im Nu war das Loch zu einem Durchgang vergrößert. Dahinter lag eine Kammer und mitten darin stand ein riesiger steinerner Sarkophag.
„Mustafa. Hol die Fackeln.“
Mustafa stellte den Spiegel zur Seite, sodass nur noch Dämmerlicht herrschte, und rannte los. Kurze Zeit später kam er wieder.
Sie entzündeten die Fackeln und gingen zum Sarkophag.
Gedankenverloren fuhr der Professor die Linien des einzigen Symbols nach, das auf dem Deckel eingraviert war: Das Auge des Ra.
Lester und Mustafa setzten die Brechstange an und hebelten unter größten Kraftanstrengungen den Deckel hoch und zur Seite.
Polternd fiel er zu Boden und zerbrach.
Alle drei beugten sie vor. In dem Sarkophag befand sich ein weiterer. Aus purem Gold. Mit unzähligen Edelsteinen, die wie kleine Lichter blinkten, Gravuren und Ornamenten, wie der Professor noch nie gesehen hatte.
„Los, öffnen!“ Der Professor zitterte am ganzen Leib.
Auch Lester fror. Es war unglaublich kalt geworden. Ihr Atem kondensierte.
„Sollten wir nicht ein paar Experten zu Hilfe holen und den Sarkophag unter kontrollierten Bedingungen öffnen?“, fragte Lester.
„Ich sagte öffnen!“, die untersetzte Gestalt des Professors hatte sich gestrafft und er wirkte auf eine merkwürdige Art besessen.
Lester gab Mustafa ein Zeichen und sie stemmten den goldenen Deckel hoch. Mit einem Zischen löste er sich vom Kasten und eiskalte Luft strömte darunter hervor.
Ein blaues Leuchten tauchte die Kammer in unheimliches Licht.
Es kam direkt aus dem Sarg.
Langsam schlängelte sich der Nebel darin fort und gab den Blick auf eine Frau frei, die in dieses Blau getaucht war. Sie war unglaublich schön. Keine Falte verunzierte ihr Gesicht. Ihr Teint war gleichmäßig hellbraun. Sie hatte ein spitzes Kinn und einen sinnlichen, vollen Mund. Die Wangenknochen standen leicht hervor und sie besaß eine Stupsnase. Die Augen waren geschlossen. Blauschwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht, das bis auf die Schultern fiel. Lester und Rainwood waren sich einig. Sie wirkte perfekt.
Sie trug typisch altägyptische Kleidung und ihre Arme waren auf der Brust verschränkt.
Ihre Handgelenke steckten in goldenen Armreifen, mit denselben blinkenden Edelsteinen.
„Das muss Hathor sein“, murmelte der Professor. „Sie scheint zu schlafen.“ Er hielt inne. „Aber sie atmet nicht!“
Sie war überdurchschnittlich groß, bestimmt zwei Meter zwanzig, schätzte Lester.
Ihr Kinn ruhte auf dem Brustbein, denn ihr Hinterkopf war außergewöhnlich lang.
Der Sarkophag leuchtete von innen heraus und verbreitete weiterhin diese Kälte.
Der Professor langte langsam mit einer Hand in den Sarg und wollte die Frau berühren. Doch als sich seine Finger der Lichtbarriere näherten, zuckte er zurück. Die Fingerspitzen waren von Raureif bedeckt.
„Vielleicht sollten wir doch noch jemanden dazuholen. Makkaroni, mach den Wagen startbereit.“ Rainwood sah sich um, aber der Junge war verschwunden.
Auch Lester suchte, fand ihn am zweiten Sarkophag. Mustafa war hineingeklettert und versucht mit einem Messer einen der Edelsteine herauszubrechen, was ihm auch gelang. Abrupt hörte das gleichmäßige Blinken aller Steine auf und erstarb.
Auch das blaue Leuchten wurde schwächer, die Nebelschwaden lösten sich auf.
„Oh Effendi, sorry“, panisch machte sich Mustafa auf den Weg nach draußen und stieß an mehrere Ecken.
Völlig überrumpelt standen Rainwood und Lester vor dem Sarkophag und beobachteten im Fackelschein, wie das blaue Leuchten verschwand.
Es war immer noch kalt, aber nicht mehr wie vorhin. Einzig die Armreifen strahlten noch.
Der Professor hielt die Fackel dicht an ihr Gesicht.
Plötzlich hob sie die Lider: Grüne, katzenartige Augen durchbohrten den Professor förmlich. Hathor riss die Arme hoch, packte den Professor an der Kehle und riss ihn von den Füßen.
„Ra?“, fauchte sie wütend.
Lester hatte sich vor Schreck auf den Boden gesetzt.
„Luft, Luft“, presste Rainwood hervor. Schließlich sagte er auf Altägyptisch das Wort für Luft.
Langsam ließ sie ihn wieder herunter, hielt ihn aber weiter fest.
Hathor sagte etwas, das Lester nicht verstand, aber der Professor. Er antwortete abgehackt, als erkläre er ihr die Situation.
Schließlich ließ sie von Rainwood ab und stieg aus ihrem Gefängnis. Sie musste sich bücken, um nicht an die Decke zu stoßen.
Jetzt erst entdeckte sie Lester und fauchte auch ihn an. Er krabbelte rückwärts, bis an die Wand.
Hathor spielte an ihren Armreifen und fragte den Professor wieder etwas. Tränen rannen ihr nach der Antwort des Professors über die Wangen.
„Weswegen weint sie?“, flüsterte Lester.
„Sie wollte wissen, wie lange sie geschlafen hat.“ Der Professor zuckte mit den Achseln. „Und wo Ra ist. Ich habe ihr die Geschichte aus dem Buch erzählt.“
Hathor besah wieder ihre Armreifen und schritt den Gang nach draußen.
Rainwood und Lester folgten ihr.
Es hatte zu dämmern begonnen.
Hathor stellte sich vor den Eingang und hielt einen Arm gegen den Sternenhimmel. Kleine Bilder zeichneten sich auf dem Armreifen ab.
Sie drehte sich zu den beiden um und sagte in gebrochenem Englisch: „Sklaven, zeigt mir Welt, damit ich rufen kann meinen Geliebten Ra!“
Rainwood und Lester standen wie erstarrt da. Was hatten sie nur angerichtet?

Letzte Aktualisierung: 18.01.2014 - 18.12 Uhr
Dieser Text enthält 10058 Zeichen.


www.schreib-lust.de