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Kaltes Licht | Januar 2014

Hell’s Kitchen /defrosted
von Jochen Ruscheweyh

Das Neonlicht vor dem Hell’s Kitchen durchbricht die Dunkelheit mit der Regelmäßigkeit eines defekten Relais. Mein Kopf dröhnt von den Schlägen.
„Ernie soll das Neon-Ding mal reparieren“, höre ich Big Bad Mama in meine Gedanken grunzen. „Wie kann es sein, dass mein Junge hier draußen verreckt und nicht mal ’ne anständige Beleuchtung dazu kriegt? Pack mal mit an, Sandy, wir bringen ihn rein!“


Ich spüre Finger, die meine Augenlider öffnen und blicke in ein grelles Licht. „Ganz ruhig, ich teste nur ihre Reflexe, an was erinnern Sie sich?“ Es riecht nach Sterillium, frisch gewischten Böden und dem menschlichen Versuch, Gottes Pläne zu korrigieren.
„Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn Sie sich erst einmal einer großen Schwärze gegenübersähen. Sie haben einen Schlag auf den Kopf erhalten.“
Es fällt mir schwer zu sprechen. Unendlich viel Zeit scheint zu verstreichen, bis sich meine Lippen voneinander lösen und das Wort „Einen?“ formen.
„Wir gehen davon aus, dass Sie Opfer einer Straftat geworden sind. Wenn wir weitgehend überblicken können, wie schwer Sie verletzt sind, wäre es sicherlich von Vorteil, wenn Sie den ermittelnden Beamten ...“
„Nein.“
„Nun gut, es ist Ihre Entscheidung.“

Ich liege vollkommen nackt auf Big Bad Mamas Tresen. Mit derselben Bewegung, mit der sie sonst 80x80 Decken über die quadratischen Tische wirft, breitet Sandy jetzt ein Geschirrtuch über meinen Leisten aus.
„Ich habe dich noch nie trinken sehen“, stöhne ich, als Sandy die Tequila-Flasche ansetzt.
„Du hast dich auch bestimmt noch nie selbst schlafen sehen, du Idiot!“, krächzt Mama neben mir und hält eins der stumpfen Brotmesser in die Höhe. Sandys stupsnasiges Cheerleader-Gesicht ist einer nüsternblähenden Drachenfratze gewichen. Zwischen ihren Fangzähnen quillt ein Nebel aus Agavenschnaps hervor, der sich zu einem Strahl verdichtet, den sie mit ihrem Feuerzeug in Brand setzt. Mit der Virtuosität, die ihre Körperfülle grade noch zulässt, zieht Big Bad Mama die Klinge durch die Feuerbälle, die aus Sandy in den Raum schießen. „Verdammt, es gibt kaum etwas, das Big Bad Mama mehr abtörnt, als Hirnchirurgie bei Verwandten! „Warum bringst du mich immer wieder in diese Situationen, warum nutzt du deine Magie nicht?“, brüllt die Frau, die mich einst dem kalten Licht der Welt entgegengepresst hat.
Etwas, worum ich sie nicht gebeten habe, etwas, das einfach passiert ist, wie Dinge eben passieren. Zufällig. So, wie ich vor wenigen Stunden festgestellt habe, dass der Mann, der Big Bad Mama geschwängert hat - mein Vater, der uns schon vor langer Zeit verlassen hat - der Teufel ist. Was die grundsätzliche Frage aufwirft, ob die Ratschläge, die er mir gegeben hat, damit automatisch irrelevant sind oder werden sollten.


„Sandra?“
Ich kann es kaum glauben, als sie an das Bett tritt. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die Zeitabstände zwischen den Ebenenwechseln wieder kürzer werden.
Der Arzt schiebt sich vor sie. „In Ihrer Brieftasche haben wir die Adresse und Telefonnummer von Frau Dahlhoff gefunden und sie umgehend benachrichtigt. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinne.“

Es ist, wie einen Ball mit einer stumpfen Schlüsselspitze zum Platzen zu bringen, Big Bad Mama muss stark drücken, um das Messer durch meine Schädelplatte zu treiben. Als es schließlich mit einem schnalzenden Geräusch in mein Hirn eindringt, entweicht etwas, von dem ich nicht sagen kann, was es ist. Aus Sandys Maul stoßen schwere Dampfwolken und walzen sich warm und reinigend über meinen Körper.

Als ich meine Augen öffne, sehe ich Sandra neben meinem Krankenbett sitzen. Ihre Wimperntusche ist - noch genauso oder bereits wieder - so verlaufen wie vor wenigen Stunden, als sie mir im Restaurant eröffnet hat, dass ich aus ihrem Leben verschwinden soll.
„Oh, mein Gott, Martin, du bist wach, geht es dir gut?“
Ich will nicken, aber sie hält mich zurück.
„Schhhhht! Du musst dich schonen. Ich weiß, dass ich hier bei dir bin, sieht bestimmt nicht sehr konsequent aus. Aber ich hatte einen Anruf.“
„Die Krankenwagenfahrer haben mein Portemonnaie durchsucht und deine Adresse gefun...“
„Nein, nein“, unterbricht mich Sandra, „von deiner Mutter!“
Ein Umstand, den ich - gelinde gesagt - definitiv ausschließen würde, da Big Bad Mama noch nie die Ebene gewechselt hat, mir auf Augenhöhe begegnet ist.


Big Bad Mama und Sandy haben mich in einen dieser Hochstühle für Kinder gesetzt, in den ich erstaunlicherweise hineinpasse. Mama löffelt mir eine bitter schmeckende Suppe in den Mund. „Kakteen-Consommé, damit du groß und stark wirst, Junge“, ermuntert sie mich zum Essen.
Sandys Gesicht besitzt mit einem Mal wieder dieselbe sterile Schönheit, die mich weder körperlich noch emotional anzieht, die schon immer eine Hürde gewesen ist, die ich nicht nehmen konnte. Sie streicht durch mein Haar und sieht mich mit einem Blick an, den sie nicht haben sollte, weil ich ihn nicht erwidern kann.
Big Bad Mama kratzt den letzten Rest Suppe aus der Schüssel und leckt den Löffel ab. „Bad Mama hat nachgedacht“, schmatzt sie vor sich hin, „eigentlich stirbt jeder, der meine Mädchen angrapscht, aber Azteken-Scheiß und zugetackert, Sandy hat vorhin mit ihrem Macker Schluss gemacht, und Bad Mama will verdammt sein, wenn sie ihrem Jungen nach der Operation nich’ ’nen ordentlichen Stich gönnen würd’.“
Sandy beißt sich auf die Lippe und zieht mit ihrem Finger Linien in meinem Gesicht nach, die nicht dort sind, die ich nie besessen habe. „Sie wünscht es sich so, Matt“, haucht sie, komm schon, gib dir einen Ruck.“ Dann fordernder: „Los! Sag es!“
Ich habe es einmal versucht, ich kann es nicht. Weil es oberflächlich wäre, nicht echt, nicht vom Grunde meines Herzens kommen würde. Der Teufel sagt: „Du kannst erst wissen, wie es ist, wenn du es ausprobiert hast!“
Woher nimmst du diese Weisheit, Vater, etwa, weil du uns selbst verlassen hast?


„Meine Mutter ist tot“, antworte ich und es klingt ziemlich überzeugend.
Sandra schaut mich verwirrt an.
„Das kann nicht sein, Martin, ich habe vorhin mit ihr telefoniert. Das heißt ... mit jemandem, der ...“
Auf einmal liegt alles so klar, so deutlich vor mir. Ich brauche keinen Test, kein Ausprobieren, ich muss, nein, ich will einfach Vertrauen haben. „Die Reihenfolge, Sandra, es ist die Reihenfolge.“
„Welche Reihenfolge?“
„Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich erst mit dir glücklich werden kann, wenn mein anderes Ich in dieser Parallelwelt, von der ich dir erzählt habe, seine Sachen geregelt hat.“
„Falls du jetzt wieder wie im Chez Maxim mit dieser Geschichte von dem nuttigen Geschöpf auf Erde Zwei ankommst, das du möglichst niveaulos flachlegen musst: Deine Fantasien widern mich an, ich will das nicht hören. Mir wird schlecht dabei, wenn ich mir vorstelle, dass du an so etwas gedacht hast, wenn wir zusammen geschlafen haben.“
„So ist es nicht gewesen und es ist auch nicht wichtig, Sandra. Weil, wenn wir beide uns zusammenraufen, dann wird auch diese Parallelwelt verschwinden.“
„Ich würde so gerne daran glauben, dass es mit uns klappt, Martin, aber ich habe zu große Angst, wieder ... enttäuscht zu werden. Ich kann dir schließlich nur vor den Kopf gucken.“
Ich greife nach Sandras Hand. „Aber du bist hier! Wärst du das, wenn du nicht noch einen Funken Hoffnung sehen würdest?“
Sie schüttelt den Kopf. „Liebe und Sorge sind zwei verschiedene paar Schuhe, Martin. Du kannst Liebe nicht erzwingen. Das ist doch nicht so, dass du einen Schalter umlegst und die Gefühle sind plötzlich da und bleiben.“
Ich blicke von der Zimmerdecke auf mich herab, sehe mich die Bettdecke wegstrampeln, spüre das Einzige, das mir je etwas bedeutet hat, für immer entgleiten. Ich hab keine andere Wahl. Meine Hand greift ihren Arm, zieht sie so nah zu mir heran, dass ihr Gesicht dicht vor meinem ist. „Shake my banta hoe“, flüstere ich ihr zu.

Vollkommen unvermittelt holt Big Bad Mama aus und schlägt mir ins Gesicht. Ihre Stimme klingt plötzlich zwei Oktaven tiefer und extrem verlangsamt. Der Vorwurf wabbert wie eine sich stetig vergrößernde Blase aus ihrem Mund. „Warum hast du das getan, du verdammter Schwachkopf?“
Sandy leckt sich über ihre Drachenlippen, während ihre Brüste, ihr Bauch, ihr gesamter Rumpf zu implodieren scheinen.
Die Wände des Hell’s Kitchen beginnen zu vibrieren. Mauerteile stürzen hinab. Durch die Decke dringt ein gleißender Lichtstrahl, der mich nach oben zieht.
„Er wär ein schlechter Fick gewesen, Mama“, meine ich Sandy feststellen zu hören. Vielleicht ist es aber auch nur der Wind, der mir auf meinem Weg aufwärts in harten Böen entgegenpeitscht.


Das bläuliche Licht der Infusionspumpe neben mir beleuchtet Sandras Gesicht, in dem sich ein naiv dümmliches Lächeln unterhalb ihrer kleinen Nase abspielt, die auf einmal viel stupsiger als sonst aussieht. Sie schiebt ihre Schultern abwechselnd vor und zurück als folge sie einem Beat und zerwühlt ihre Frisur wie ein Playmate bei einer Fotosession. Ich kann mich nicht daran erinnern, je etwas für sie empfunden zu haben.
Die Nachtschwester kommt näher und legt mir ihre stark behaarte Hand mit den krallenartigen Nägeln auf die Schulter. Ihr Kopf, den sie schüttelt, zeigt die Züge meines Vaters und Big Bad Mamas herablassenden Blick. Den einzigen, den sie je für mich übrig hatte. „Das Banta Hoe ist in dieser Welt so kontraproduktiv wie irreversibel, du Schwachkopf!“, faucht sie, während Sandras monotone Stimme über Brustvergrößerungen, L.A.-Waxing und Schaumpartys zu dozieren beginnt.

Einige Steine und zerstörte Fertigbauteile liegen dort, wo das Hell’s Kitchen einmal gestanden. Sandy sitzt auf den Trümmern. Sie sieht umwerfend aus. Aus ihrer Seele perlen kleine magentafarbene Kügelchen. Ich nehme mir welche und lutsche sie wie Bonbons. „Warum liebe ich dich auf einmal so sehr, dass es mich beinahe umbringt?“, frage ich. Ihr Lächeln schneidet in meinen Eingeweiden. „Weil der Drache nur solange aus dem Fluss trinken will, wie seine Flamme brennt.


V2

Letzte Aktualisierung: 22.01.2014 - 20.56 Uhr
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