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Kaltes Licht | Januar 2014

Schattenwelt
von Martina Lange

Der Januar klebte auf den Straßen und Gehwegen. Lucie zwängte sich aus der überfüllten Straßenbahn. Die herandrängenden Fahrgäste versperrten ihren Weg und so trat sie in eine der ölig schimmernden Pfützen.
Sofort durchweichte die trübe Salzbrühe ihren Stiefel. Angeekelt schüttelte sie das eisige Wasser ab und überstieg einen der schmutzigen Schneehügel vor der Haltestelle. Schnee rutschte von oben in den Stiefelschaft. Nun waren beide Füße nass und kalt.
Notgedrungen ergab sie sich den widrigen Umständen, zog ihren schwarzen Schal zurecht, die dazu passende Mütze über beide Ohren und tief ins Gesicht. Ein eisiger Windstoß trieb die mit ihr Angekommenen auseinander und auch Lucie vor sich her.
Die Luft roch nach Schnee und Abgasen. Die Hände tief in den Taschen vergraben, wich sie entgegenkommenden Passanten aus. Jemand trat unerwartet aus einem der Geschäfte. Lucie gelang es gerade noch auszuweichen, um einen Zusammenstoß zu verhindern und geriet dafür in den Strom der Vorbeieilenden. Von allen Seiten erntete sie unwillige Äußerungen. Über die Köpfe hinweg bemerkte sie für einen Moment die Gestalt eines Mannes.
Anfang dreißig, markantes Gesicht und Brille. Er erinnerte sie vage an ihren neuen Nachbarn, der ihr immer so hilfsbereit die Tür aufhielt. Sobald sie aber seinen Blick über ihr Gesicht streichen spürte, wandte sie sich rasch ab. Sie wollte niemandem auffallen.

Die Laternen tauchten die Gehsteige in mitleidlose Helligkeit. In den Ecken, hinter den Müllcontainern und Hinterhöfen wurde die Dunkelheit dagegen umso dichter.
Dort war eine ganz andere Welt. Geboren erst durch die Erleuchtung aller Wege, entzog sie sich den kalten, grell schillernden Lichtern der Stadt. Allgegenwärtig fraßen sie ausnahmslos selbst den kleinsten Funken positiver Energie. Alles erschien fahl, besonders die Menschen. Ihre blicklosen Augen steigerten Lucies Schaudern, beschleunigten ihre Schritte, während sie sich zwang, nur auf den versulzten Gehweg zu sehen. Noch zwei Straßen, sprach sie sich innerlich Mut zu, dann war sie zu Hause.

Sehnsüchtig dachte sie an ihre Küche, in der sie an anderen Tagen zu dieser Zeit bereits ihren Kakao trank.
Heute hatte sich Frau Freitag an Lucie erinnert. Die Erinnerungen kamen ihrer Kollegin immer dann, wenn der Chef bereits gegangen war und auch Frau Freitag früher nach Hause wollte. Lucie hatte genickt, woraufhin Frau Freitags Mund gelächelt und sie "Schätzchen" genannt hatte.
Morgen konnte sie wieder allein frühstücken, wenn sie erneut unsichtbar geworden war. Das störte Lucie nicht im geringsten, wohl aber der Umstand, an den mit Finsternis bevölkerten Winkeln vorbeigehen zu müssen.
Allmählich wurde die Zahl der Entgegenkommenden geringer. Nun konzentrierte sie sich ganz auf das vor ihr liegende Mietshaus aus den späten Sechzigern. Als sie die Haustür öffnete, drängte sich der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Küchendünsten an ihr vorbei.
An der linken Tür im ersten Stock mischte sich kalter Zigarettenrauch hinzu. Lucie verzog heute nicht einmal das Gesicht. Sie hastete lediglich weiter die Stufen hinauf. Vorbei am dritten Stock mit den Blumen vor der einen Tür und dem gelben Sack vor der anderen, bis hinauf zum Dachgeschoss. Noch bevor sie ihre eigene Wohnung erreichte, hielt sie bereits den Schlüssel in der Hand. Ihr Nachbar kam ihr schwungvoll mit wehendem Schal auf den letzten Stufen entgegen. Er grüßte fröhlich, stolperte über die nächsten zwei Stufen und eilte unbeirrt weiter die Treppe hinunter. Lucie erstarrte, murmelte ein schmales 'Guten Abend', aber das hörte er sicher nicht mehr. Er sah aus wie jener Mann, der sie nach dem Beinahzusammenstoß angesehen hatte. Konnte es sein, dass sich zwei Menschen dermaßen ähneln? Verwundert steckte sie den Schlüssel in die Tür. Dieser Tag war eindeutig zu lang gewesen.
Im kleinen Flur entledigte Lucie sich achtlos der feuchten, schwarzen Jacke, gefolgt von Schal und Mütze. Mit beiden Händen wuschelte sie sich ihre geplätteten blonden Haare auf. Eigentlich mochte sie keine Mützen.
Die aufflammende Küchenlampe beschien die Reste ihres Frühstückstoasts, dessen Rinde sich welk in die Höhe bog. Wie mahnende Zeigefinger reckten sie sich ihr entgegen.
'Du hast wieder den Tisch nicht abgeräumt', hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Lucie seufzte, warf den Toast in den Mülleimer und die Stimme gleich hinterher.
Die Nacht hinter dem kleinen Dachfenster flackerte ihr kalt entgegen. Lucie ließ aus der Geborgenheit ihrer Küche den Blick schweifen. Von links, wo die dunkle Fläche des Parks lag, nach rechts, vorüber an den großen Wohntürmen der Trabantenstadt. Schneeregen klatschte nun schwer auf die Scheibe und nahm ihr die Sicht. Entschlossen zog sie das Rollo herunter.

Sie schmierte sich ein Käsebrötchen und legte es auf den Frühstücksteller. In der Zwischenzeit begann der Wasserkocher zu brodeln. Und endlich stieg ihr tröstlich der warme, süße Duft von Kakao in die Nase. Jetzt noch eine Prise Zimt ... hmm. Winter und Zimt gehörten einfach zusammen.
Vor sich hinsummend balancierte Lucie ihr "Mahl" in das angrenzende Wohnzimmer. Im Vorbeigehen schaltete sie den Fernseher ein. Die meisten Filme hatten bereits begonnen. Nach dieser Art von Unterhaltung stand ihr sowieso nicht der Sinn. Achtlos biss sie in ihr Brötchen, während sie mit dem Finger an ihren DVDs entlangwanderte. Ihre Regale waren abwechselnd angefüllt mit Büchern, CDs und DVDs. Neben- und übereinander, manchmal voreinander - ein Umstand, welcher ihr das Finden regelmäßig erschwerte - stapelten sie sich dicht gedrängt.
Lucies Finger fanden endlich einen ihrer Lieblingsfilme. Sie zog ihn aus dem Regal und legten ihn neben ihren Teller auf den Wohnzimmertisch. Aus den großen Augen der lachenden Mädchen strahlte ihr überschwängliche Energie entgegen. Vorfreude und der Kakao wärmten sie bis in die kleinen Zehen durch.
Im Schlafzimmer entledigte sie sich ihrer Arbeitskleidung. Schwarze Jeans und hellgraue Bluse wurden ordentlich auf den Bügel gehängt und keines Blickes mehr gewürdigt. Entzücken erfüllte sie, als sie die linke Seite ihres Kleiderschrankes öffnete. Farbenfroh begrüßte sie der Inhalt.
Ein blauer Minirock mit weißem Saum, dazu das passende Oberteil. Ein wenig erinnerten die Kleidungsstücke an die Uniformen von Matrosen, abgesehen von der roten Schleife. Behutsam schlüpfte Lucie in weiße, halterlose Strümpfe, die ihre langen Beine betonten. Schließlich frisierte sie sich neu. Ordentliche Zöpfe mit ebenfalls roten Schleifen versehen. Lucie drehte sich vor dem hohen Standspiegel und lächelte. Zum ersten Mal an diesem Tag.

Der Vorspann begann und Lucie sang ihn leise mit. Längst konnte sie die Texte auswendig. Hier war ihre Welt. Und einen Augenblick später tauchte sie ganz darin unter. Bunt und fröhlich leuchtete sie ihr entgegen und sie strahlte zurück.

Es klingelte! Lucie zuckte zusammen. Wer mochte das sein um diese Zeit? Sie stoppte die DVD und öffnete die Wohnzimmertür. Ganz leise, auf Zehenspitzen, schlich sie hinüber zur Wohnungstür. Die Kette war eingehängt, glücklicherweise. Leider hatte sie vergessen, das Licht im schmalen Flur zu löschen. Sie konnte also nicht vorgeben fort zu sein. Es klopfte.
Ein Schatten bewegte sich vor dem Glaseinsatz. Zitternd drehte sie den Schlüssel und öffnete die Tür, so weit die Kette es zuließ.
Nasse Winterstiefel, nasse Hosenbeine, nasser Wintermantel und das rot gefrorene Gesicht ihres Nachbarn füllten den schmalen Spalt aus. Sein Blick war Entschuldigung und Verzweiflung gleichermaßen. Ein verlorener Junge.
"Bitte, ich habe meinen Schlüssel verloren und ich kann ihn in den Schneehaufen vor der Tür einfach nicht finden. Mein Handy ist noch in meiner Wohnung. Könnte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen? Den Schlüsseldienst anrufen oder so ...?"
Er verhedderte sich in seiner Ratlosigkeit und seine nervösen Finger in den dunklen Brillenbügeln.
Lucie starrte ihn noch immer sprachlos an. Dann runzelte sie die Stirn. Seine Augen waren so anders: lebendig und voller Wärme. Stand er noch nicht unter dem Einfluss des kalten Lichtes? Eine Welle längst verloren geglaubten Vertrauens stieg in Lucie empor.
"Oh, natürlich. Einen Moment bitte." Ungeschickt entfernte sie die Kette und öffnete ihre Wohnungstür. Bat einen Fremden hinein.
"Danke sehr", lächelte er erleichtert und ließ seine Verlegenheit mit dem Schneematsch auf der Fußmatte zurück. Unter seinem Mantel blitzte das Emblem eines Superhelden auf.

Letzte Aktualisierung: 25.01.2014 - 13.13 Uhr
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