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Kaltes Licht | Januar 2014

Absturz
von Vic Van Berg

Absturz

Funkelnde Augen, die Lichtblitze versprühen, volle, schwarze Haare, leicht gelockt. Lippen, wie zum Kuss gespitzt. Ich versinke beim Anblick des Mannes in einem Meer aus Versuchungen. Den ganzen Abend kann ich den Blick nicht von ihm abwenden, obwohl ich ihn schon so oft gesehen habe. Heute ist seine Anziehungskraft für mich unerträglich, ich will ihn haben! Der hellgraue Sommeranzug fällt perfekt über den makellosen Körper, den ich mir darunter vorstelle, nur die Krawatte ist gelockert, der oberste Hemdknopf geöffnet.

Es ist schon spät, die Feier erreicht ihren Höhepunkt. Wir haben reichlich getrunken und getanzt, sind ausgelassen, vom Alltag ist keine Spur geblieben. Wie zufällig streift mein Knie sein Bein. Sein Zeigefinger berührt meinen Oberschenkel, fährt verstohlen nach oben, unsere Blicke begegnen sich nicht, wir reden mit den Tischnachbarn. Mein Zittern verrät mich. Wie auf Kommando springen wir auf, entschuldigen uns am Tisch, murmeln etwas von Toilette und Telefonieren, finden uns in einem Raum wieder, abseits von unserer Gesellschaft und anderen Gästen. Alleine, im Halbdunkel, die Nacht zieht am Fenster vorbei.

Das Sakko landet auf dem Boden neben der Krawatte. Meine Hände mühen sich mit den Hemdköpfen ab, während seine Finger ein leichtes Spiel haben, da ich ein Sommerkleid und keine Strumpfhose trage. Erwartungsvolle, heiße Küsse auf meinem Hals entlang zu den Ohren, auf dem Bauch, die Zunge im Nabel, mein Büstenhalter ist aufgehakt, der nichts mehr verdeckt, das Kleid liegt neben dem Sakko auf dem Boden, die Pumps sind noch an meinen Füßen.

Ein schneller Blick durch das Zimmer und wir finden einen Platz, zwischen Regalen mit Putzutensilien und Reinigungsmitteln. Ein niedriger Holztisch, der schnell von seinen Flaschen und Dosen leer gefegt ist, stabil genug, uns auf unserer Wolke zu tragen.

Seine Finger sind überall auf mir, in mir, ich bin wie elektrisch aufgeladen, voller Spannung, öffne mich ihm, bin bereit für die ersten Wogen. Ein Feuerwerk der Lust, das seinen Höhepunkt in der gegenseitigen Verschmelzung und Ekstase findet.

Ich muss an mich halten, damit ich nicht vor Wollust laut stöhne oder gar schreie, ich sollte an die anderen Gäste denken, die sich im Hotel aufhalten, in dem wir unsere Sommerparty veranstalten. Die letzten drei Jahre habe ich ihn heimlich beobachtet, von meinem Arbeitsplatz aus und bei den Feiern. Dieses Jahr ist die Verlockung zu groß, überwältigt mich und ich gebe ihr nach. Er auch. Dass es so leicht wird, hätte ich nicht erwartet. Immerhin bestimmt Distanz unser Arbeitsleben. Ich will jetzt nicht an die Folgen denken. Es zählt nur der Moment und ich ärgere mich über mich selbst, dass ich so lange gewartet habe. So viel verschenkte Zeit. Was hätten wir alles erleben können, nicht nur sexuell, auch in anderen Lebensbereichen, wenn wir früher zueinander gefunden hätten.

Meine Ehejahre mit Lukas ziehen an mir vorbei, die vielen Streits, die wir ausgefochten haben, das gemeinsame Haus, das wir gekauft haben, die Bank, die uns ständig im Nacken sitzt, damit die Raten pünktlich herein kommen, der Wunsch nach Kindern, der bis jetzt unerfüllt geblieben ist, die Eltern, die wir nie zufrieden gestellt haben, Lukas' heimlicher Berufswunsch, dem er nie nachgegangen ist. Vielleicht wäre für Lukas mit einer anderen Frau alles anders gekommen. Ich bin seine Bremse, die ihn an der Erfüllung seiner Lebensträume hindert, aber wir gestehen es uns nicht ein. Warum habe ich Lukas geheiratet? Ich bin nicht schwanger gewesen, somit bestand keine Notwendigkeit. Ich bin bereit, ihn freizugeben, damit er sich seine Wünsche erfüllen kann. Wie unglücklich ist er mit mir?

Ich könnte mir jetzt endlich auch meine Wünsche erfüllen. Mit meinem Chef! Egal, was die Kollegen sagen werden, wahre Liebe steht über allem! Lieber spät, als überhaupt nicht. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken wie beim Kettenkarussell, mir ist schwindelig, ich stürze ab.

Tausend Nadeln werden in meinen Kopf getrieben, der gleich wie eine Zeitbombe explodieren wird. Ich warte auf den Knall, es ist dunkel, mir ist kalt, ich zittere unkontrolliert, aus meinem Mund kommen Töne, für die ich keine Sprache finde. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, kann keinen klaren Gedanken fassen. Um mich herum füllt sich der Raum mit Geräuschen, ich kann aber nichts verstehen.

Ich blicke in das grelle Licht einer Neonröhre, die mich blendet. Schnell schließe ich die Augen wieder, will nichts sehen, niemanden erkennen, auch nichts hören. Da ist nichts.

„Valerie?!“

Ich öffne zuerst ein Auge, dann das andere. Immer noch kaltes Neonlicht. Ist es Tag oder Nacht?

„Endlich bist Du wach!“

Lukas?

Mein Kopf, der eben noch leer gewesen ist, schäumt über mit Gedanken, die ich nicht haben will. Lukas. Die Sommerparty im Hotel. Das kleine Zimmer mit den Putzmitteln. Der Sex. Der Chef und ich. Die Scheidung von Lukas.

Der Chef und ich? Habe ich etwa...?

„Valerie! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“

Lukas! Ich muss wach sein, ich kann blinzeln, die Lider schießen. Ich bin völlig desorientiert und verwirrt, ich versuche mich zu konzentrieren.

„Lukas?“ bringe ich hervor.

"Liebes, ich bin da. Wir sind im Krankenhaus, du hast einen Aussetzer gehabt. Sei unbesorgt.“ Lukas' Stimme wärmt mich, wirkt beruhigend. „Ich habe dir Kleidung, etwas zum Lesen, Obst und Säfte mitgebracht. Liebes, ich bin da, du musst dich um nichts kümmern. Ich regele alles, schalte einfach ab. Geht es dir wieder besser?“

"Nein, nicht gut,“ presse ich hervor. Einen Aussetzer? Ich traue mich nicht direkt zu fragen. „Im Krankenhaus?“

Klingt so mein Ehemann, den ich ihn gerade mit meinem Chef betrogen habe?

"Du hast bei eurer Sommerparty zu viel getrunken, bist statt zur Toilette in eine Putzkammer gelaufen und dort gestürzt. Das Personal hat dich gefunden und den Notarzt gerufen.“


© Vic Van Berg; 2. Version; 5.813 Zeichen.

Letzte Aktualisierung: 27.01.2014 - 20.00 Uhr
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