Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Verschlafen | Februar 2014
Den Jahreswechsel verschlafen
von Anne Zeisig

Ich, Rosemarie, habe mich zerrissen zwischen Beruf und den Kindern, deren Vater frĂŒhzeitig das Weite gesucht hat, weil er sich in der Toskana selber verwirklichen musste mit Haschischkonsum, einer Schafherde und selbstgemachtem KĂ€se, der zwar gut schmeckte, aber keinen Unterhalt fĂŒr unsere beiden Töchter ĂŒbrig ließ.
Vom KÀse alleine wurden meine beiden Töchter nicht satt, aber sie jubelten, wenn Weihnachten der Paketzusteller einen Laib aus der vÀterlichen Kleinstproduktion anlieferte.

Fortan lebte ich mit einem Vaterphantom, dem meine MĂ€dels einen Heiligenschein aufsetzten, wĂ€hrend ich tagaus tagein dafĂŒr sorgte, dass das BĂŒro meines Chefs nicht im Chaos versank und er jeden Morgen seinen magenschonenden Kaffee in einem TĂ€sschen aus hauchdĂŒnnem Porzellan bekam, wĂ€hrend sich mein schlechtes Gewissen meldete. Hatte nĂ€mlich wieder keine Zeit gehabt, den MĂ€dchen ein gesundes FrĂŒhstĂŒck zu bereiten.
Sie stopften sĂŒĂŸe Corn-Flakes in sich hinein und beruhigten mich, weil doch die Milch Eiweiß und Kalzium enthalte. Wie auch der fettige SchaftskĂ€se vom fernen Papa.
Ich verschlief neuerdings des öfteren, weil ich nachts wegen der Wechseljahrs-Hitze mit Transpirieren beschÀftigt war und oft erst gegen Morgen so richtig einschlafen konnte.

Ich tippte diverse GeschĂ€ftspost blind und besorgte termingerecht den obligatorischen Rosenstrauß fĂŒr meinen Boss, weil er nie an Geburts- oder Hochzeitstage dachte.
Zum vierzigsten EhejubilĂ€um habe ich ihn und seine verwöhnte Edelgattin zum Luxusflittern in die WĂŒste geschickt. Zweisamkeit im Beduinenzelt. Danach hat die Gemahlin ihren Gatten in die WĂŒste geschickt, weil er was mit einer blutjungen WĂŒstenschönheit angefangen hatte.
Nach seiner reuigen RĂŒckkehr hat mein Chef mich zwar nicht in die WĂŒste, aber zur Bundesagentur fĂŒr Arbeit geschickt mit den Worten:
“Die VerdrĂ€ngung ist spĂŒrbar, da muss sich die Firma verjĂŒngen und wach bleiben fĂŒr die Zukunft.”
Die VerjĂŒngung hatte ellenlange Beine, ellenlange rote Haare und ein ellenlanges Informatikstudium. Okay, vielleicht sind Beine und Haare so lang nicht, aber trotzdem ist sie jung.
Blutjung.
Die verschlĂ€ft bestimmt nie, weil ihre Wechseljahre Lichtjahre entfernt sind, und falls sie ihren Wecker doch einmal ĂŒberhören sollte, dann liegt mein Ex-Chef bestimmt in ihrem Bettchen und weckt sie mit heißen KĂŒssen auf ihre aalglatten Wangen auf.
Wer, wie ich, des nachts wegen der Schwitzerei und den daraus resultierenden Duschorgien nicht durchschlafen kann, der verschlÀft schon mal ab und zu morgens.
Aber ich schwöre es im Angesicht der Gewerkschaft, dass ich dieses halbe StĂŒndchen des ZuspĂ€tkommens immer nach Feierabend drangehĂ€ngt habe.

* * *

Mein Kopf dröhnt und pocht. Ich brenne von innen nach außen und schwimme im eigenen Saft. Am besten, ich bleibe einfach liegen und halte meine schweren Lider geschlossen. Wo auch immer ich sein mag, ich habe endlich eine Nacht durchgeschlafen und es ist schnurzegal, ob ich verschlafen habe, denn mein Arbeitsamt-Fallmanager hatte bisher keinen produktiven Termin fĂŒr mich. Heute bestimmt auch nicht.
“Hm”, rĂŒckte er seine Brille von Hugo Boss zurecht, “FĂŒnfzig ĂŒberschritten! Nur bei Feinkost Kunze tĂ€tig gewesen, das zeugt nicht von FlexibilitĂ€t!” Er plusterte beim Einatmen seine Brust auf. “Jedoch der Arbeitsmarkt verlangt nach ... “
Ich hatte es kapiert. KontinuitĂ€t und langjĂ€hrige Erfahrung waren out, blickte beim Gehen kurz zurĂŒck um festzustellen, dass seine Brust beim Ausatmen in sich zusammen fiel wie eine Mogelpackung.

Als ich mich nach fĂŒnfmonatiger Arbeitslosigkeit abermals gegen vierzehn Uhr trĂ€ge aus dem Bett gewĂ€lzt hatte, beschlossen meine MĂ€dels, dass es Zeit sei, meinen Marktwert zu checken.
Ich sollte zum Jahreswechsel auf eine Fete gehen.


* * *

Die Silvesterparty schwappte dem Höhepunkt entgegen und der Drink aus Rosemaries Glas schwappte ihm ĂŒber die Anzughose.
“Macht nichts!”, schrie er gegen die LautstĂ€rke der Musik an und stierte in ihren Ausschnitt, “ist doch geil, nicht wahr, wie der Beat rockt .” Er wog sich im Rhythmus und stampfte mit den FĂŒĂŸen auf wie ein Urwaldbewohner wĂ€hrend des Fruchtbarkeitstanzes. Das bunte Licht der Diskokugel ließ sein silbergraues Haar farbig schillern.
“Jau! Geil!”, rief auch Rosemarie und zerrte ihn auf die TanzflĂ€che. Sie hatte keine Ahnung, das wievielte GetrĂ€nk sie bereits hinuntergegossen hatte, allerdings war ihr Nachholbedarf ja auch enorm.
“Ich bin Vladimir! Aus Weißrussland! Mit deutschgebĂŒrtiger Babushka!”, erklĂ€rte er lautstark.
“Wow!”, antwortete sie, und drehte sich immer wieder im Kreis, bis ihr schwindelig wurde. “Du hast ĂŒberhaupt keinen Akzent!” Und schon lag sie in seinen Armen, spĂŒrte seine Lippen und probierte den ersten Wodka ihres Lebens.
“Kocht das GroßmĂŒtterchen auch Blinis?”, lallte sie glucksend, fĂ€chelte sich mit der GetrĂ€nkekarte Luft zu und ließ sich von ihm entfĂŒhren.
Er winkte ab. “Blinis? Ich weiß was Besseres, mein Rebenok.”
“Rebenok?”
“SchĂ€tzchen”, sĂ€uselte er.
Schampus im Bett, es folgte der erste Joint, und ihr erster Orgasmus nach gefĂŒhlten einhundert Jahren.

* * *

Ich höre, wie jemand einen SchlĂŒssel im Schloss umdreht, eine TĂŒr knarrt in den Angeln. Der kĂŒhle Lufthauch tut gut.
“Vladimir”, hauche ich, “gibt es Blinis und Schampus zum FrĂŒhstĂŒck?”
Öffne vorsichtig meine bleiernen Lider. Die WĂ€nde sind weiß gekachelt. Kein Fenster. An der Decke eine Neonröhre.
“Das ist hier keine FrĂŒhstĂŒckspension, sondern eine AusnĂŒchterungszelle!”
Wie ein Steh-Auf-MÀnnchen sitze ich plötzlich aufrecht.
Eine Polizistin drĂŒckt mich sanft auf das Bett mit steinharter Matratze zurĂŒck. “Wissen Sie eigentlich, dass wir Sie vorm Erfrieren gerettet haben?” Einer ihrer Mundwinkel zuckt.
“Ich und erfrieren? Dass ich nicht lache!”, entfĂ€hrt es mir, und ich frage die auch nicht mehr ganz Taufrische, ob sie wĂŒsste, was Wechseljahrshitze sei.

Die Beamtin weist zur TĂŒr. “Ich bringe Sie zu meinem Kollegen.”
Ich folge ihr mit weichen Knien und sitze plötzlich einem MittfĂŒnfziger gegenĂŒber.
Ich schĂŒttele dem Herrn die Hand. “Schön, dass hier Leute in meinem Alter beschĂ€ftigt sind. Wenn Sie jemanden zum Tippen benötigen, oder Akten sortieren?” Bedanke mich fĂŒr die Übernachtung.
Er hĂ€lt mir meine Tasche unter die Nase. “Wir mĂŒssen wissen, wie das Kokain in ihre Handtasche gekommen ist.” Und legt sie beiseite.
Der Kommissar schiebt mir ungefragt ein Glas Wasser und eine Aspirin ĂŒber den Schreibtisch zu. “Ist das ihre Tasche?”
Ich nicke. Da ist mein Pass drin. LĂŒgen nutzt also wenig.
“Wer sind Ihre HintermĂ€nner? Ihre Lieferanten?”
“HintermĂ€nner? Vor hundert Jahren hatte ich mal einen Ehemann, der ausschließlich KĂ€se liefert, dann hatte ich einen Chef, der Feinkost auf dem jungen Markt verkauft, weil er seine Vorliebe fĂŒr BabygemĂŒse entdeckt hat, und dann traf ich Vladimir, der mir, und, Ă€h, ja, und.”
“Und?”
Mir wird siedendheiß. ‘Der Joint!’
“GnĂ€digste! Wir schreiben den ersten Januar! Aufgegriffen haben wir Sie gegen Null-Uhr-FĂŒnfundvierzig auf einer Bank im Ostpark, als sie Ihren Rausch ausschliefen. Wir fanden in Ihrer Handtasche das Rauschgift.”
Meine HĂ€nde sind kalt und auf meiner heißen Stirn bildet sich Schweiß.
“Ich habe nur einen Joint geraucht”, gebe ich kleinlaut zu.
“Sie hatten auch noch eine Wodkafahne wie tausend Russen. Haben offenbar ausgiebig Silvester gefeiert.”
Ich spĂŒre ein dumpfes GefĂŒhl in der Magengegend. `Erster Januar bereits?ÂŽ
“Aber dann habe ich ja den Jahreswechsel verschlafen.”
Wie jedes Jahr. Nur dieses Mal nicht auf meinem Sofa, sondern auf einer Parkbank.

Er haut mit der Faust auf den Tisch. “Sollen wir etwa glauben, dass ein edler Spender Ihnen das Zeug geschenkt hat, als Sie auf der Parkbank schliefen?”
“Habe wirklich nur einen einzigen Joint geraucht”, gebe ich abermals schuldbewusst zu, “das schwöre ich bei der Gewerkschaft fĂŒr Nahrung und Genussmittel.”
Bin bereits arbeitslos, da kann ich keine Sucht gebrauchen, nur weil mein weißrussischer One-Night-Stand offenbar einen neuen Absatzmarkt mit Leuten ab FĂŒnfzig erschließen will. `Finger weg vom RauschgiftÂŽ, habe ich meinen Töchtern immer gepredigt.

“Wo haben Sie denn Silvester gefeiert?”
Langsam dĂ€mmert es mir. “Im Clubhaus am Park.”
Hatte nicht Vladimir gesagt, dass ich seine Silvesterböller in meiner Handtasche mit hinausnehmen soll, damit wir das neue Jahr begrĂŒĂŸen können? Verstaute das PĂ€ckchen in meiner Tasche und ging noch zur Toilette. Ich wartete draußen auf der Bank auf ihn.
“Aber das Clubhaus befindet sich am anderen Ende der GrĂŒnanlage.”
Mir schießt wieder eine Höllenhitze in den Kopf. “Wir sind noch vor Zwölf in seine Wohnung gegangen”, wispere ich.
“Wer ist Wir?”
“Vladimir. Weißrusse ohne Akzent und ich.” Das muss als ErklĂ€rung reichen.
Es gibt Details, die einzig und alleine meinem Privatleben zuzuordnen sind.
“Er wollte noch zum Klo und steckte mir ein PĂ€ckchen in die Tasche, sagte, das seien Knaller”, antworte ich und heule los. “Ich wartete draußen auf ihn.”
“Aha. Aber dann frage ich mich, warum er nicht mehr zu Ihnen in den Park kam.”
Ich zucke mit den Schultern. “Vielleicht ist er ja auf der Toilette eingeschlafen.”
“Wie kommen Sie denn auf diese Idee?”
`Manner schlafen doch grundsÀtzlich nach dem Sex einŽ, denke ich mir und sage nichts mehr ohne einen Anwalt.


anne zeisig, ENDversion

Letzte Aktualisierung: 24.02.2014 - 08.40 Uhr
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