Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Ich darf nicht verschlafen! Auf keinen Fall! Morgen frĂŒh muss ich rechtzeitig aufwachen!
In immer kĂŒrzeren AbstĂ€nden sage ich mir diese SĂ€tze vor, wiederhole sie wie ein Mantra, klammere mich an jedes einzelne Wort.
Seit Wochen, ja Monaten kann ich kaum schlafen, weil ich diese unĂŒberwindliche Angst habe. Zu verschlafen. Ab und zu döse ich weg, doch selbst in diesen wenigen Minuten kann ich mich nicht erholen. Das Unterbewusstsein beschĂ€ftigt sich stĂ€ndig damit, mich zu ermahnen. Die TrĂ€ume, die mich heimsuchen, sind Transportmittel meiner Angst.
Schlafmittel kann ich nicht nehmen, die Gefahr, zu verschlafen, ist zu groĂ.
âDu musst pressen, Maria! Fester!â, schreie ich. Dabei hat meine Frau lĂ€ngst einen roten Kopf und stöhnt zum Erbarmen. Doch irgendetwas macht sie falsch. Je lĂ€nger sie presst, desto mĂ€chtiger wird ihr nackter Bauch. Dicke Adern mĂ€andern darauf umher, ĂŒberkreuzen sich und konzentrieren sich um den Nabel.
âIch platze gleichâ, quiekt Maria und ich halte ihr den Mund zu, weil ich ihre Stimme nicht mehr ertrage. Trotzdem gellt es in meinen Ohren, denn sie schafft es, in den höchsten Tönen weiter zu jammern.
âWo bleibt nur der Arzt?â, brĂŒlle ich in den Raum. Erst jetzt fĂ€llt mir auf, dass es darin keinerlei Farbe gibt. Er strahlt in einem alles verschlingenden WeiĂ, das tödlich wirkt. Umso widernatĂŒrlicher erscheinen Marias grellrot geschminkte Lippen.
âEs kommt! Oh verdammt, Gisbert, es kommt!â, schluchzt Maria, denn zum Schreien hat sie keine Kraft mehr. Mit ohrenbetĂ€ubendem LĂ€rm platzt die Fruchtblase und ein Schwall FlĂŒssigkeit ergieĂt sich ĂŒber das Bett, flieĂt auf den Boden und gurgelt in einen Abfluss. Der Strom versiegt nicht mehr, Liter um Liter trĂ€nkt die Mattratze. Es riecht penetrant nach Metzgerladen - ein Geruch, den ich verabscheue. Marias Bauch wird zusehends dĂŒnner und fĂ€llt in sich zusammen.
âHol es raus, unser Kindâ, bettelt sie mich an, âschnell, sonst wird es ĂŒberfahren.â So unsinnig das auch klingt, ich gehorche und stecke wie ferngesteuert meine HĂ€nde in die dunkle Höhle, aus der noch immer das Fruchtwasser strömt.
âHast du es? Ziehâs raus, verdammt noch mal!â Panisch durchwĂŒhle ich ihre Eingeweide.
âEs ist nichts drin! Da ist nur Wasser.â Diese Erkenntnis erschreckt mich so sehr, dass ich aus dem Halbschlaf hochschrecke.
Ein Blick zur Uhr - ich habe ganze zehn Minuten geschlafen. Diese TrÀume machen mich noch wahnsinnig. Von Maria habe ich mich lÀngst getrennt. Trotzdem spielt sie in beinahe jedem Traum eine wichtige Rolle. Wie unser Sohn Tobias. Er ist der Fixpunkt, um ihn dreht sich meine Traumwelt, auch wenn er selten selbst darin vorkommt.
Ich habe Angst!
Wenn ich richtig einschlafe, werde ich verschlafen. Das darf auf keinen Fall geschehen. So haben diese schrecklichen TrÀume auch ihr Gutes: Ich wache davon wieder auf.
Ich schaue auf den Wecker, es ist mitten in der Nacht, halb drei. Noch wĂ€hrend ich auf das Ziffernblatt blicke, beginnt der groĂe Zeiger im Kreis zu rasen. Im Nu ist es vier, halb fĂŒnf. Und mit dem Verstreichen der Zeit wĂ€chst der Wecker, fĂŒllt um sechs schon den ganzen Nachttisch aus, drĂ€ngt das Buch ĂŒber Traumdeutung beiseite - es kippt lautlos ĂŒber den Rand. Ich will schreien, doch meine Kehle ist zugeschnĂŒrt. Kein GerĂ€usch ist zu hören, nur das Ticken des Monstrums erklingt wie aus weiter Ferne. Kurz nach sechs fĂ€llt der metallene Zimmergenosse auf den Boden und ist aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich will aufatmen, doch dann sehe ich, dass er sich weiter ausdehnt, der obere Rand erscheint bereits ĂŒber der Bettflucht. Das Wachstum hat sich beschleunigt und auch die Form hat sich subtil verĂ€ndert. Auf irgendeine Weise gelingt es dem GerĂ€t, fies auszusehen, gefĂ€hrlich und hinterhĂ€ltig. Endlich zeigt der Wecker sein wahres Gesicht!
Ich wusste schon immer, dass er schuld ist. Schuldig mit jedem Gran seines blechernen Seins. Es war seine finstere Bosheit, die mich hat verschlafen lassen. Und nun will er auch mich umbringen, nimmt mir die Luft zum Atmen. Soll er nur, einen gröĂeren Gefallen kann er mir nicht tun. Leben heiĂt schuldig sein, und das ertrage ich nicht mehr.
Der Wecker fĂŒllt bereits das ganze Zimmer aus. Erste ErstickungsanfĂ€lle erzeugen Panik und Freude - gleich wird es vorbei sein! Ich weiĂ, dass Maria meinem Leiden zusieht, und auch das ist gut so. Sie soll wissen, dass ich endlich bezahle. Mit meinem Leben.
Doch plötzlich weià ich, dass ich es gar nicht bin! Dass es Tobias ist, der da erstickt! Ich versinke in namenlosem Grauen.
SchweiĂgebadet wache ich auf. Todessehnsucht steigt in mir auf bis zum Rand meines Bewusstseins, eliminiert jeden anderen Gedanken. Wieder einmal ist Tobias in einem meiner TrĂ€ume gestorben. Ich will das nicht mehr erleben! Seit so vielen Monaten ist er nun schon tot. Die Stiche in meiner Brust âŠ
Ich darf mich nicht bewegen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum das so ist. Doch ich begreife, dass mein Verhalten ĂŒber Leben und Tod entscheidet. SchweiĂ perlt von meiner Stirn, es ist unertrĂ€glich heiĂ. Wo bin ich ĂŒberhaupt? Ich weiĂ es nicht. Seit Stunden stehe ich auf einem Bein und bin mĂŒder als je zuvor in meinem Leben. Langsam und unaufhaltsam nĂ€hert sich das zweite dem Grund. Mit aller Kraft, die noch in mir ist, versuche ich eine BerĂŒhrung des Bodens zu vermeiden, doch das verfluchte Glied gehorcht mir nicht mehr. Ich habe Angst vor den Folgen. Auch wenn ich sie nicht kenne, ahne ich, dass sie furchtbar sein werden.
Ein leises Klicken verrĂ€t mir, dass ich den Kontakt hergestellt habe. Es wiederholt sich in regelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden und ich sehe, was mir vorher entgangen ist. Eine lange Reihe Dominosteine zieht sich durch den Raum und einer nach dem anderen fĂ€llt um, stöĂt den nĂ€chsten an. Die Kettenreaktion entwickelt sich entlang einer vorgegebenen Linie. Langsam zwar, wie in Zeitlupe, doch unaufhaltsam. Erst fĂ€llt es mir nicht auf, doch schlieĂlich bemerke ich, dass die Steine immer gröĂer werden. War der erste noch winzig klein, sind sie mittlerweile schon groĂ wie Bucher und werden immer riesiger, je weiter entfernt sie sind. Stumm, die Augen starr vor Entsetzen schaue ich zu. Was wird passieren? Welche Katastrophe habe ich ausgelöst?
Die Steine sind inzwischen groĂ wie TĂŒren und sicher zentnerschwer. Das Getöse ihres Sturzes dringt immer lauter an mein Ohr. Der Boden bebt, Staub wirbelt auf und behindert die Sicht.
Trotzdem sehe ich im Hintergrund Tobias aufs Fahrrad steigen, er winkt Maria zum Abschied zu und tritt in die Pedale. Ohne Zögern fÀhrt er auf die tödlichen Steine zu.
âHalt! Tobias, steig ab!â, schreie ich so laut ich kann, doch der LĂ€rm ist zu groĂ, ich komme nicht gegen ihn an. OhnmĂ€chtig muss ich zusehen, wie der letzte Stein ins Schwanken kommt, mit unendlicher Langsamkeit kippt, zu Boden fĂ€llt ⊠und Tobias unter sich begrĂ€bt.
Mein Herz holpert, ich spĂŒre die Extrasystolen. Es ist nicht mehr weit her mit diesem Organ in meiner Brust. Es will nicht mehr, und ich bin voll und ganz damit einverstanden. Und doch darf ich nicht selber Schluss machen. Das war Tobias auch nicht vergönnt, er musste noch wochenlang auf der Intensivstation liegen und vor sich hin sterben. Hoffnung gab es keine, doch ⊠das Herz schert sich nicht um Wahrscheinlichkeiten. Es schlĂ€gt, solange es die Kraft dazu hat.
Dabei hatte ich es ihm versprochen! âSelbstverstĂ€ndlich bringe ich dich mit dem Auto in die Schule!â Und dann ⊠verschlafen.
Endlich sehe ich den ersten Lichtstrahl wie einen Pfeil durch den kaputten Fensterladen dringen. Signal fĂŒr mich, aufzustehen und einem neuen Tag ins Gesicht zu sehen. Viele wird es hoffentlich nicht mehr geben.