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Verschlafen | Februar 2014

Davongekommen
von Hajo Nitschke

Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ohne mich gäbe es Sie, der gerade diesen Bericht liest, nicht mehr. Nichts gäbe es mehr. Aber ich möchte damit nicht prahlen. Dass ich unsere Welt vor dem Untergang bewahrte, ist nur zum geringsten Teil mein Verdienst. Eine höhere Macht hat mich erwählt. Oder ein gütiges Schicksal. Ich bin kein Spinner, habe keinen Verrücktenstatus. Alles, was ich hier niederschreibe, ist wahr. Doch der Reihe nach:

Es war der 10. Juni 1990, ein Sonntag, als ich vormittags nach etwa vierhundert Höhenmetern den steilen Bergvorsprung im Nordosten des Gebirges erreichte. Mit der kompakten Ausrüstung eines selbsternannten Höhlengängers auf dem Rücken und einem schweren Käfig in der Hand kein leichtes Unterfangen. Ein unbewaldeter, verkarsteter Flecken, der nicht zum Verweilen einlud. Aber eines der letzten Planquadrate, das ich im Umkreis von vielen Kilometern noch nicht überprüft hatte.

Der Eingang zu einem alten Stollen war es, der mich in helle Aufregung versetzte. Ich stieß darauf, als ich über einen Stein stolperte und mich im letzten Moment am Gestrüpp festhalten konnte. Es hatte den Zugang verborgen. Nachdem ich den Eingang mühsam freilegte und den Käfig hinter dem Gesträuch behutsam absetzte, ging es mit stetem Gefälle in die Tiefe. Immer wieder waren Sedimente herauszuschlagen, Felsbrocken zu lösen und Engstellen zu passieren, durch die man sich nur kriechend und mit nachschleifendem Rucksack zwängen konnte. Zum Glück trug ich einen robusten Overall. Plötzlich ein steiler Abbruch. Ich fixierte das Abseilgerät und ließ mich vorsichtig herunter. Zu meiner Erleichterung betrat ich nach zehn Metern wieder festen Boden. Der letzte Rest Tageslicht erlosch. Mich fröstelte.

Sorgfältig leuchtete ich mit der Stirnlampe meines Steinschlaghelms die Wände ab: Ein Gang tat sich zur Rechten auf, den ich in fast aufrechter Haltung begehen konnte. Bereits nach etwa vierzig Metern erweiterte er sich zu einer Höhle, deren riesige Ausmaße ich erst nach und nach erfasste. Ich musterte im Schein der Karbidlampe einen Ausschnitt nach dem anderen. Karbon, erinnerte ich mich. Geschaffen vor etwa dreihundert Millionen Jahren durch Verwitterung und Ausspülungen. Kupferschiefer, Zechsteinkalk und Gipsgestein bildeten die Basis, Wände und Decken gewannen im kristallenen Glimmern der Mineralien an Kontur. Vorsichtig ging ich die Höhle ab. Es war um die Mittagszeit, als ich aus einem fernen Winkel erstmals dieses Geräusch hörte. Erst leise und beim Näherkommen immer lauter. Wie elektrisiert bog ich um eine Felskante und …

… wahrhaftig, da hatte ich sie vor mir. Und ihn! Er war es, der Kaiser. Saß vornübergesunken auf einem wuchtigen Stuhl, den Kopf gestützt in verschränkte Arme über einem gewaltigen Tisch. Eiche, wie mir schien. Um ihn herum seine Getreuen. Fünf Reisige mit Kettenhemd, metallverstärktem Lederrock und Kalottenhelm. Schwerter, lange Stangenwaffen und Faustschilde lagen verstreut auf dem Boden. Alle schliefen tief, die langen Intervalle der Atemzüge verrieten es. Und natürlich schnarchten sie ausgiebig. Daher jenes Geräusch.

Es gab ihn also doch! Den Kaiser des alten römisch-deutschen Reiches, Friedrich d. Erste, genannt Friedrich Barbarossa oder auch Rotbart. Kein Geringerer als er saß an diesem 10. Juni, auf den Tag achthundert Jahre nach dem tragischen Unfall im reißenden anatolischen Saleph, vor mir. Bis auf einen Lendenschutz unbekleidet, denn das Unglück hatte ihn – während des Kreuzzuges - beim Baden ereilt. Aber eingehüllt in seinen schier endlos langen roten Bart. Ausgerechnet mir war die Entdeckung gelungen! Nicht im Norden unterhalb der Bergruine Rothenburg, nicht im Süden bei Bad Frankenhausen, auch nicht im Osten unter dem Kyffhäuserdenkmal, und schon gar nicht im Westen in der Barbarossahöhle! Nein, hier an dieser schwer zugänglichen, unwirtlichen Stelle, zu der sich noch kaum eine Menschenseele verirrt haben dürfte.

Vor Entsetzen zitternd zählte ich die Schlingen, die dieser Bart, nachdem er durch die Eichenbohlen hindurchgewachsen war, um den Tisch gelegt hatte. Drei! Drei Mal umrundet – das war der Anfang vom Ende der Welt! Sicher würde in Kürze jener Kleinwüchsige erscheinen, dem der Kaiser im Schlaf befohlen hatte, nach den Raben zu sehen. Während der hundertjährlichen kurzen Wachphasen des Kaisers hatte er diesen über die Entwicklung im Reich zu informieren.

Die Raben! Ich hatte zuvor schon selber vergebens den Himmel nach ihnen abgesucht. Nichts. Was das bedeutete, war nun klar. Wehe dem ganzen Erdball, der binnen kurzer Frist zum Untergang verurteilt war. Fieberhaft überlegte ich, vielleicht gab es noch einen Ausweg. Der Bart! Ich zückte mein Messer und schnitt behutsam die letzten Zentimeter ab, mehr wäre vermessen gewesen. In diesen Augenblick seufzte der Kaiser und öffnete die Augen. Sah mir direkt in die Augen. Ich fiel auf die Knie, wusste nichts zu sagen. Wie redet man einen fast achthundertsiebzigjährigen Potentaten an?

„Wer ist Er? Wie kommt Er hierher?“ Für einen gerade beendeten hundertjährigen Schlaf eine erstaunlich feste, tiefe Stimme, befehlsgewohnt. Ich rang nach Worten, berichtete stammelnd von meiner Passion, die mich jetzt an diese Stelle geführt hätte. Als ich zögerte, erriet er meine Frage.
„Nenn' Er mich 'Majestät', das soll reichen. Was habe ich seit dem letzten Mal verschlafen? Berichte Er! Ich mag auf meinen Zwerg nicht warten.“ Das letzte Mal – das war 1890. Da die Zeit drängte, beschränkte ich mich auf das Wesentliche. Als ich das Ende des letzten Kaiserreiches 1918 erwähnte, murmelte Barbarossa:
„Wilhelm? Vom Beginn seiner Regentschaft hatte ich erfahren. Ich hoffe, er hatte ein recht deutsches Herz.“
„Das hatte er, aber der, der bald nach ihm kam, nicht.“
In kurzen Zügen streifte ich die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus'.
„Ruchloser!“, war alles, was der greise Monarch über den damaligen „Führer“ herausstieß. Zuletzt erzählte ich von den beiden deutschen Staaten, die lange Zeit nebeneinander existierten und erst seit sieben Monaten aufeinander zuzuwachsen schienen.
„Die Menschen riefen: 'Wir sind das Volk', und dann rissen sie den Grenzwall nieder, Majestät.“

„So so. Wisse Er: das vernehme ich ungern. Untertanen geziemt sich eine solche Erhebung nicht.“
„Meine Majestät, es ist anders, als Ihr vermutet. Die Zeiten haben sich ...“
„Zeiten kommen und gehen, aber gut, es sind alles immer noch meine Kinder. Mag ich es verschlafen haben, so will ich doch das, was sie selbstfreiwillig begannen, nun vollenden ...“
Er stutzte, wirkte plötzlich niedergeschlagen: „Es sei denn, ein weiterer elender Schlaf ist mein Los.“

„Ihr kennt nicht den wahren Ablauf, o Majestät“, musste ich ihn berichtigen. Und ich erklärte ihm, nur sein neuerlicher Schlaf könne der Menschheit einen Aufschub für weitere hundert Jahre gewähren:
„Würdet Ihr jetzt bei Bewusstsein bleiben, müsstet Ihr die letzte Schlacht der Weltgeschichte schlagen: Gut gegen Böse, mein Kaiser.“
„Er soll mich doch mit `Majestät` ansprechen!“
„Vergebt, aber wir haben keine Zeit für Formalitäten. Die Prophezeiung sagt, Ihr werdet zwar die Sache zum Guten Eurer 'Untertanen' ausfechten. Danach aber kippt die Welt in den Abgrund, der sein riesiges Maul bereits während Eures Gefechtes immer weiter aufreißt ...“

Ein fernes Donnerrollen unterbrach mich. Es wurde lauter, erreichte die Höhle, deren Boden zu vibrieren begann. Barbarossa wurde bleich. Auch seine Gefährten erwachten, sprangen auf und griffen nach den Waffen. Da tauchte ein zwergenähnliches Wesen auf und schrie durch den Lärm:
„Die Raben fliegen nicht mehr!“ Eine Botschaft, die das nahe Ende besiegelte. Das Bartstutzen würde also ohne Absicherung erfolglos bleiben. Und so stürzte ich verzweifelt hinaus, hangelte mich nach oben, robbte und rannte, der Prellungen und Abschürfungen nicht achtend, hinaus ins Freie, wo pechschwarze Fratzen aus dem Tal emporwaberten und sich eisige Kälte ausbreitete. So, wie unter mir der Boden schwanke, musste das gesamte Kyffhäuser-Gebirge beben, wahrscheinlich bereits das ganze Land! Ich verlor keine Zeit, riss das Tuch vom eingangs erwähnten Käfig und ließ meine drei Raben frei, die ich eingedenk des brisanten Datums für alle Fälle mitgebracht hatte.

Mit heiseren Schreien erhoben sie sich in die Luft, kreisten um den Berg. Und schlagartig endete der Donner, verschwanden Beben, Kälte und Finsternis. Kein Weltuntergang! Stattdessen vier Monate später die deutsche Einheit. Ausgerechnet in den Grenzen des letzten deutschen Kaiserreiches! Was liegt näher, als dass Barbarossa seine Hand im Spiel hatte? Zu Ende zu führen, was bereits begann, hatte er – wie berichtet - angekündigt Und so bin ich sicher, dass er mit der ganzen geistigen Macht des Unterbewusstseins Kraftströme sendet und noch im Schlummer Segen stiftet. Konnte er seinem Volk nicht wachend zum alten Glanz verhelfen, so doch im Schlaf.

Ja, so war es, so und nicht anders, ich kann es beeiden. Dass Barbarossa und die Kaiserwache sofort für die nächsten hundert Jahre in Schlaf versanken, brauche ich kaum zu erwähnen. Das ist nun bald vierundzwanzig Jahre her. Ich bin alt und grau geworden und lebe nur noch von der Erinnerung. Diese habe ich hier ehrlichen Herzens und ohne eigenes Hinzufügen kund getan.

Ergebenst

Ihr Kajo Mitschke.



@ Hajo Nitschke V3

Letzte Aktualisierung: 10.02.2014 - 08.51 Uhr
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