Verschlafen | Februar 2014
| Der Held | von Eva Fischer
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Kein Lichtstrahl hat ihn geweckt, denn es ist Winter und die Sonne weilt noch auf einer anderen Seite des Globus.
Auch das Baby, das sonst frühzeitig lautstark nach Nahrung verlangt, scheint es sich heute anders überlegt zu haben.
Mist! Warum hat er seinen Wecker nicht gehört? Dem wird er später auf den Grund gehen. Es ist sieben Uhr und er muss dringend seine beiden Schwestern wecken, damit sie rechtzeitig zur Schule kommen.
Hassan springt aus dem Bett. An ein Frühstück ist heute nicht zu denken. Schnell eilt er zum Zimmer seiner beiden Schwestern, ruft sie bei ihren Namen. Zum Glück reagieren sie sofort. Seine laute Stimme hat ihre Träume zerstört.
Hassan selbst zieht seine Schuluniform an. Das Gesicht verträgt ein paar Wasserspritzer. Es kann losgehen. Inch-Allah! Nein, halt, er hat das Morgengebet vergessen. Rasch scheucht er seine Schwestern aus dem Haus, während er den Gebetsteppich unter dem Bett hervorzieht. So viel Zeit muss sein. Er wird den Tag nicht ohne ein Gebet an Allah beginnen.
Die Straße ist bereits erwacht. Händler haben sich auf den Weg gemacht, um ihre Waren auf dem Markt anzupreisen. Schulkinder gibt es um diese Zeit keine mehr.
Zwischen den hastenden Männern erkennt Hassan jedoch einen Jungen. Ist das nicht Yassin? Behäbig und langsam, wie immer, schlurft er in Turnschuhen den Gehsteig entlang.
„Komm, beeil dich, sonst bekommen wir den Morgenappell nicht mehr mit“, spornt Hassan ihn an.
„Meine Mutter ist schuld. Sie hat mich nicht rechtzeitig geweckt“, nörgelt Yassin.
„Und? Willst du jetzt vor allen als Muttersöhnchen dastehen? Nimm dich zusammen und lege einen Schritt zu!“, mahnt ihn Hassan, doch vergeblich.
„Zu spät komme ich eh“, jammert Yassin. „Da kann ich auch noch in Ruhe meinen Rosinenkuchen essen.“ Er beißt genüsslich in den frischen Teig. „Willst du auch mal probieren?“, fragt er und hält Hassan ein Stück des duftenden Kuchens unter die Nase. Obwohl Hassan spürt, wie sein Magen knurrt, lehnt er das Angebot dankend ab.
„Guck mal, der Berkan ist auch zu spät!“
Ein schlaksiger, dunkelhaariger Junge überquert gedankenverloren die Straße, als ob er auf einem anderen Stern wandelt.
„Was geht ab, Alter?“, fragt ihn Yassin, der sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen kann.
„Hast du wieder Computerspiele gespielt?“
„Ey, Mann, das Spiel war voll geil. Fünfzig Amis hab ich abgeknallt. Peng! Alle hab ich mitten ins Herz getroffen.“
Berkan geht in die Knie, als ob er gleich zu Boden sinken müsse.
„Hey, Jungs, könnt ihr euch das nicht ein andermal erzählen. Wir kriegen Ärger, wenn wir zu spät kommen. Vielleicht schaffen wir noch den Morgenappell, wenn wir etwas Gas geben.“, unterbricht sie Hassan.
Doch das Schultor ist schon geschlossen. Der Hausmeister steht davor und mustert die Ankömmlinge schlecht gelaunt.
Für die verpäteten Schüler bedeutet das einen Eintrag ins Klassenbuch, endlose Vorträge über mangelnde Disziplin, aber vor allem heißt das, erst einmal warten.
Hassan tritt unwillig von einem Bein auf das andere. Er ist in der 9.Klasse, macht bald seinen Abschluss. Yassin und Berkan scheint ein Eintrag ins Klassenbuch wenig zu stören. Sie tauschen sich wortreich über die neuesten Computerspiele aus.
Hassan hingegen denkt an seinen Vater, der ihn gern in seinem Geschäft sehen möchte. Er verkauft Obst und Gemüse, muss schon bei Morgengrauen aufstehen, um in der Markthalle frische Ware zu ersteigern. Eigentlich würde Hassan lieber Lehrer werden. Er ist gut in Mathematik und Physik. In der ersten Stunde hat er Unterricht bei seinem Lieblingslehrer Herrn Nasouf. Wie unangenehm, dass er gerade seinen Unmut auf sich ziehen wird, weil er verschlafen hat.
Er hört die Stimmen der Lehrer, die ihre Schüler mit markigen Worten auf den Schultag einstimmen. Das kann also noch etwas dauern, bis der Hausmeister das Tor wieder öffnet.
Sein Blick wandert auf die andere Straßenseite, wo ein Mann in Schuluniform ebenfalls das Geschehen hinter dem Schultor beobachtet. Wer ist der Kerl? Für einen Schüler ist er eigentlich zu alt. Hassan betrachtet ihn misstrauisch. Sein Bauch will nicht so recht zu seinen sonst schlanken Gliedmaßen passen.
Nun überquert der Mann die Straße. Im Bruchteil einer Sekunde wird Hassan klar, was der Mann will, denn Drähte lugen unter seinem Mantel hervor.
Er muss ihm Einhalt gebieten. Hassans Gehirn läuft auf Hochtouren. Er geht auf den Fremden zu, der ihn mit einem bösen, unwilligen Blick anfunkelt, als wolle er sagen „geh mir aus dem Weg, Kleiner!“ Doch Hassan ist nicht klein. Er ist groß und kräftig. Er wird ihn aufhalten. Von diesem Mann geht Unheil aus. Das spürt er genau.
Kurz darauf prallen ihre Körper aufeinander wie feindselige Armeen. Hassan reißt den Mantel zur Seite, sieht die todbringende Waffe des Gegners. Was hat er dem entgegenzusetzen, wenn nicht seine Stimme, die Stimme der Vernunft gegen all den Irrsinn?
„Hauen Sie ab!“, brüllt er, so laut er kann.
Aus den Augenwinkeln sieht er in einiger Entfernung die erstaunten Blicke von Yassin und Berkan.
„Ihr auch! Verschwindet! Schnell!“
Ein riesiger Knall zerfetzt ihm das Gehör. Tausend Splitter fegen ihn in einer großen Druckwelle zu Boden. Das Letzte, was er wahrnimmt, ist das wutverzerrte Gesicht seines Widersachers. Dann ist die Leitung in seinem Gehirn unterbrochen. Tiefes Schwarz stülpt sich über sein Bewußtsein.
Der Körper des Attentäters liegt zerstückelt auf dem grauen Asphalt. Keiner wird dieses Puzzle je wieder zusammenfügen.
Yassin heult laut auf. Ein Splitter der Bombe hat sein Bein verletzt. Blut sickert durch seine dunkelblaue Hose.
Berkan war schneller. Entsetzt schaut er auf das Szenario, was sich seinen Augen bietet. Kein Videospiel hat ihn wirklich auf diesen Moment vorbereitet.
Nach dem ohrenbetäubenden Knall folgt ein Moment lähmender Stille, bevor eine Horde von Schülern schreiend das Tor stürmt. In wilder Panik rennen sie in alle Richtungen davon, als ob weitere Selbstmordattentäter auf sie warten.
Die Sirenen des Krankenwagens nähern sich dem Schulgebäude in einem Crescendo. Hassan wird eilig auf eine Trage gelegt und ins Krankenhaus gebracht. Doch die Hilfe der Ärzte kommt für ihn zu spät.
*
Junge rettet Schüler vor Selbstmordattentäter
Der 15-jährige Aitisas Hassan bemerkt vor seiner Schule in Nordwestpakistan einen Mann mit einem sechs Kilo schweren Sprengstoffgürtel.
Er stoppt den Attentäter. Die Bombe zündet. Der Attentäter stirbt auf der Stelle, Hassan erliegt wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Niemand sonst kam zu Schaden.
Dazu sein Vater: „Mein Sohn hat zwar seine Mutter zum Weinen gebracht, aber er hat Hunderte Mütter davor bewahrt, um ihre Kinder zu weinen.“
3.Fassung
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Letzte Aktualisierung: 13.02.2014 - 22.14 Uhr Dieser Text enthält 6766 Zeichen. www.schreib-lust.de |