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Verschlafen | Februar 2014

Schlafen ist Sünde
von Elmar Aweiawa

Ich darf nicht verschlafen! Auf keinen Fall! Morgen früh muss ich rechtzeitig aufwachen!

In immer kürzeren Abständen sage ich mir diese Sätze vor, wiederhole sie wie ein Mantra, klammere mich an jedes einzelne Wort.
Seit Wochen, ja Monaten kann ich kaum schlafen, weil ich diese unüberwindliche Angst habe. Zu verschlafen. Ab und zu döse ich weg, doch selbst in diesen wenigen Minuten kann ich mich nicht erholen. Das Unterbewusstsein beschäftigt sich ständig damit, mich zu ermahnen. Die Träume, die mich heimsuchen, sind Transportmittel meiner Angst.
Schlafmittel kann ich nicht nehmen, die Gefahr, zu verschlafen, ist zu groß.

„Du musst pressen, Maria! Fester!“, schreie ich. Dabei hat meine Frau längst einen roten Kopf und stöhnt zum Erbarmen. Doch irgendetwas macht sie falsch. Je länger sie presst, desto mächtiger wird ihr nackter Bauch. Dicke Adern mäandern darauf umher, überkreuzen sich und konzentrieren sich um den Nabel.
„Ich platze gleich“, quiekt Maria und ich halte ihr den Mund zu, weil ich ihre Stimme nicht mehr ertrage. Trotzdem gellt es in meinen Ohren, denn sie schafft es, in den höchsten Tönen weiter zu jammern.
„Wo bleibt nur der Arzt?“, brülle ich in den Raum. Erst jetzt fällt mir auf, dass es darin keinerlei Farbe gibt. Er strahlt in einem alles verschlingenden Weiß, das tödlich wirkt. Umso widernatürlicher erscheinen Marias grellrot geschminkte Lippen.

„Es kommt! Oh verdammt, Gisbert, es kommt!“, schluchzt Maria, denn zum Schreien hat sie keine Kraft mehr. Mit ohrenbetäubendem Lärm platzt die Fruchtblase und ein Schwall Flüssigkeit ergießt sich über das Bett, fließt auf den Boden und gurgelt in einen Abfluss. Der Strom versiegt nicht mehr, Liter um Liter tränkt die Mattratze. Es riecht penetrant nach Metzgerladen - ein Geruch, den ich verabscheue. Marias Bauch wird zusehends dünner und fällt in sich zusammen.
„Hol es raus, unser Kind“, bettelt sie mich an, „schnell, sonst wird es überfahren.“ So unsinnig das auch klingt, ich gehorche und stecke wie ferngesteuert meine Hände in die dunkle Höhle, aus der noch immer das Fruchtwasser strömt.
„Hast du es? Zieh‘s raus, verdammt noch mal!“ Panisch durchwühle ich ihre Eingeweide.
„Es ist nichts drin! Da ist nur Wasser.“ Diese Erkenntnis erschreckt mich so sehr, dass ich aus dem Halbschlaf hochschrecke.


Ein Blick zur Uhr - ich habe ganze zehn Minuten geschlafen. Diese Träume machen mich noch wahnsinnig. Von Maria habe ich mich längst getrennt. Trotzdem spielt sie in beinahe jedem Traum eine wichtige Rolle. Wie unser Sohn Tobias. Er ist der Fixpunkt, um ihn dreht sich meine Traumwelt, auch wenn er selten selbst darin vorkommt.

Ich habe Angst!

Wenn ich richtig einschlafe, werde ich verschlafen. Das darf auf keinen Fall geschehen. So haben diese schrecklichen Träume auch ihr Gutes: Ich wache davon wieder auf.

Ich schaue auf den Wecker, es ist mitten in der Nacht, halb drei. Noch während ich auf das Ziffernblatt blicke, beginnt der große Zeiger im Kreis zu rasen. Im Nu ist es vier, halb fünf. Und mit dem Verstreichen der Zeit wächst der Wecker, füllt um sechs schon den ganzen Nachttisch aus, drängt das Buch über Traumdeutung beiseite - es kippt lautlos über den Rand. Ich will schreien, doch meine Kehle ist zugeschnürt. Kein Geräusch ist zu hören, nur das Ticken des Monstrums erklingt wie aus weiter Ferne. Kurz nach sechs fällt der metallene Zimmergenosse auf den Boden und ist aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich will aufatmen, doch dann sehe ich, dass er sich weiter ausdehnt, der obere Rand erscheint bereits über der Bettflucht. Das Wachstum hat sich beschleunigt und auch die Form hat sich subtil verändert. Auf irgendeine Weise gelingt es dem Gerät, fies auszusehen, gefährlich und hinterhältig. Endlich zeigt der Wecker sein wahres Gesicht!
Ich wusste schon immer, dass er schuld ist. Schuldig mit jedem Gran seines blechernen Seins. Es war seine finstere Bosheit, die mich hat verschlafen lassen. Und nun will er auch mich umbringen, nimmt mir die Luft zum Atmen. Soll er nur, einen größeren Gefallen kann er mir nicht tun. Leben heißt schuldig sein, und das ertrage ich nicht mehr.
Der Wecker füllt bereits das ganze Zimmer aus. Erste Erstickungsanfälle erzeugen Panik und Freude - gleich wird es vorbei sein! Ich weiß, dass Maria meinem Leiden zusieht, und auch das ist gut so. Sie soll wissen, dass ich endlich bezahle. Mit meinem Leben.
Doch plötzlich weiß ich, dass ich es gar nicht bin! Dass es Tobias ist, der da erstickt! Ich versinke in namenlosem Grauen.


Schweißgebadet wache ich auf. Todessehnsucht steigt in mir auf bis zum Rand meines Bewusstseins, eliminiert jeden anderen Gedanken. Wieder einmal ist Tobias in einem meiner Träume gestorben. Ich will das nicht mehr erleben! Seit so vielen Monaten ist er nun schon tot. Die Stiche in meiner Brust …

Ich darf mich nicht bewegen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum das so ist. Doch ich begreife, dass mein Verhalten über Leben und Tod entscheidet. Schweiß perlt von meiner Stirn, es ist unerträglich heiß. Wo bin ich überhaupt? Ich weiß es nicht. Seit Stunden stehe ich auf einem Bein und bin müder als je zuvor in meinem Leben. Langsam und unaufhaltsam nähert sich das zweite dem Grund. Mit aller Kraft, die noch in mir ist, versuche ich eine Berührung des Bodens zu vermeiden, doch das verfluchte Glied gehorcht mir nicht mehr. Ich habe Angst vor den Folgen. Auch wenn ich sie nicht kenne, ahne ich, dass sie furchtbar sein werden.

Ein leises Klicken verrät mir, dass ich den Kontakt hergestellt habe. Es wiederholt sich in regelmäßigen Abständen und ich sehe, was mir vorher entgangen ist. Eine lange Reihe Dominosteine zieht sich durch den Raum und einer nach dem anderen fällt um, stößt den nächsten an. Die Kettenreaktion entwickelt sich entlang einer vorgegebenen Linie. Langsam zwar, wie in Zeitlupe, doch unaufhaltsam. Erst fällt es mir nicht auf, doch schließlich bemerke ich, dass die Steine immer größer werden. War der erste noch winzig klein, sind sie mittlerweile schon groß wie Bucher und werden immer riesiger, je weiter entfernt sie sind. Stumm, die Augen starr vor Entsetzen schaue ich zu. Was wird passieren? Welche Katastrophe habe ich ausgelöst?

Die Steine sind inzwischen groß wie Türen und sicher zentnerschwer. Das Getöse ihres Sturzes dringt immer lauter an mein Ohr. Der Boden bebt, Staub wirbelt auf und behindert die Sicht.
Trotzdem sehe ich im Hintergrund Tobias aufs Fahrrad steigen, er winkt Maria zum Abschied zu und tritt in die Pedale. Ohne Zögern fährt er auf die tödlichen Steine zu.
„Halt! Tobias, steig ab!“, schreie ich so laut ich kann, doch der Lärm ist zu groß, ich komme nicht gegen ihn an. Ohnmächtig muss ich zusehen, wie der letzte Stein ins Schwanken kommt, mit unendlicher Langsamkeit kippt, zu Boden fällt … und Tobias unter sich begräbt.


Mein Herz holpert, ich spüre die Extrasystolen. Es ist nicht mehr weit her mit diesem Organ in meiner Brust. Es will nicht mehr, und ich bin voll und ganz damit einverstanden. Und doch darf ich nicht selber Schluss machen. Das war Tobias auch nicht vergönnt, er musste noch wochenlang auf der Intensivstation liegen und vor sich hin sterben. Hoffnung gab es keine, doch … das Herz schert sich nicht um Wahrscheinlichkeiten. Es schlägt, solange es die Kraft dazu hat.

Dabei hatte ich es ihm versprochen! ‚Selbstverständlich bringe ich dich mit dem Auto in die Schule!‘ Und dann … verschlafen.


Endlich sehe ich den ersten Lichtstrahl wie einen Pfeil durch den kaputten Fensterladen dringen. Signal für mich, aufzustehen und einem neuen Tag ins Gesicht zu sehen. Viele wird es hoffentlich nicht mehr geben.

© aweiawa, 2014
Version 2

Letzte Aktualisierung: 17.02.2014 - 11.23 Uhr
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