Diese Seite jetzt drucken!

Verschlafen | Februar 2014

Wie das Leben spielt
von Monika Heil

In kleinen Gruppen verließen sie den Besprechungsraum.
„Der Alte hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank“, flüsterte Sportchef Heinz Lohmann dem Redakteur ´Wirtschaft` zu. „Wie kann der nur dem jungen Schiller die Theaterpremiere geben? So wie der aussieht, hat er von Kultur ähnlich viel Ahnung, wie der Papst vom ... Na du weißt schon.“
„Nomen est omen“, lachte Dr. Ruppert unfroh. Gemeinsam betraten sie den Aufzug.
„Die Jansen war ganz schön sauer über die Abfuhr vom Chef.“
„Das hat sie sich selbst eingebrockt. Ihre Rezension über ´Don Carlos` vorigen Monat war wirklich zu dick aufgetragen. Wie die den Lilienkamp in den Himmel gelobt hat! Man meint ja gerade, die hätte was mit dem.“
„Na, da können wir bei Schiller wohl unbesorgt sein, dass der was mit der Ziegler hat“, grinste Lohmann und setzte dann, wieder ernster werdend, hinzu: „Ich frage mich allerdings, ob das der Jungspund wirklich besser kann. Von Pop und Rock mag er Ahnung haben, aber Dürrenmatt ist wohl doch ein paar Nummern zu groß für ihn. Was wird da schon bei rauskommen?“ Dr. Ruppert zuckte mit den Schultern, ohne darauf zu antworten. Er hatte keine Lust, das Thema weiter zu verfolgen und verabschiedete sich, als sie im Erdgeschoss angekommen waren.
„Bis Montag, Heinz. Schreib einen schönen Bericht über das Eintrachtspiel. Und kritisiere die Jungs nicht zu sehr. Du hast den Alten vorhin gehört: `Mehr Positives meine Herrn`. Ich denke, das gilt nicht nur für Wirtschaft und Kultur, sondern auch für Sport.“
„Na dann, positives Wochenende, Gerd.“

Heinz Lohmann lief mit schnellen Schritten Richtung S-Bahn-Haltestelle, als Jens Schiller „Und tschüß“ rufend, an ihm vorbeispurtete. Missbilligend schüttelte der Ältere den Kopf. Ich kann den Typen nicht leiden, dachte er. Nix gegen Cordhosen und Gammelshirts. Aber dieser Ohrring und dann der Brilli in der Nase. Nee, kein Geschmack, kein Benehmen, keine Kultur. Und der soll heute Abend für eben dieses Ressort die Theaterkritik schreiben. Da macht die Jansen doch eine ganz andere Figur. Lohmann konnte sich noch immer nicht beruhigen. Er sah den jungen Kollegen in den ersten Wagen der S-Bahn einsteigen. Daraufhin nahm er den zweiten.

Jens Schiller warf einen kurzen Blick zurück. Dieser Lackaffe. So würde ich nicht mal ins Theater gehen, wie der in der Redaktion erscheint, dachte er aufgebracht.
Theater! Das war sein Stichwort. Er – Jens Schiller, Redakteur des Tageblattes - durfte die Premiere heute Abend im Stadttheater besprechen. Dürrenmatt. Besuch der alten Dame.
Und dann - Ingrid. Flughafen Fuhlsbüttel. „Meine Maschine landet zwanzig Uhr fünfzehn“, hatte sie auf die Mailbox gesprochen. Ingrid, die Frau seines Lebens ... oder, na ja, die Frau des Jahres. Premiere hin, Premiere her.

Ich habe das Stück vor drei Jahren in München gesehen - auch wenn sich das dieser Angeber von Lohmann sicher nicht vorstellen kann, sagte er sich. Klar, der Alte hat ganz richtig entschieden, als er der Jansen die Premiere wegnahm, um „der Jugend eine Chance“ zu geben. Aber ausgerechnet heute Abend? Ingrid! Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Die Zeit reicht, beschloss er, reicht für beides.

Zehn Minuten später sprintet der junge Redakteur die Stufen zu seinem Appartement hinauf. Er stürzt in die Küche, holt eine Cola aus dem Kühlschrank, greift nach seinen Zigaretten und öffnet gleichzeitig den Laptop. Durchatmen. Nachdenken. Er schließt die Augen, rekapituliert, was er weiß. Die Ziegler kennt er aus ein paar Komödien im Fernsehen. Das kann doch kein Problem sein, eine Kritik über den Besuch der alten Dame u n d die Ziegler zu verfassen. Oder? Flink beginnt er zu tippen.
„Anja Ziegler spielt nicht nur eine große alte Dame. Sie ist es auch. Sie verkörpert den Typ ...“ Nach einer halben Stunde lehnt Jens sich zufrieden zurück und grinst. Das war doch ganz leicht. Ein Blick auf die Armbanduhr sagt ihm, dass er gut in der Zeit liegt. Nun schnell unter die Dusche, umziehen und dann ab zum Flughafen. Ingrid! Er kann es kaum erwarten.

Es war kurz vor Mitternacht, als die zwei Verliebten nach einem ausgiebigen Kneipenbummel in sein Appartement zurückkehrten.
„Moment, Schatz, ich muss erst noch meine Arbeit abliefern“, nuschelte Jens leicht angetrunken und marschierte zu seinem Schreibtisch. Mit ein paar Klicks setzte er seine Theaterkritik an die Redaktion ab. Dann folgte er, mit sich und der Welt zufrieden, Ingrid ins Schlafzimmer. Die Nacht war noch lange nicht zu Ende.

Sie standen am Sonntagmorgen sehr spät auf, bereiteten sich ein ausgiebiges Frühstück zu. So sparten sie das Mittagessen ein. Danach zogen sie sich erneut ins Schlafzimmer zurück und tauchten erst am frühen Abend wieder auf, als es Zeit wurde, zum Flughafen zu fahren.

Nachdem ihm Ingrid eine letzte Kusshand zugeworfen hatte, verschwand sie hinter den großen Glastüren in Richtung Abfertigung. Jens deckte sich mit Zeitungen ein, die er auf dem Heimweg im Taxi eilig durchblätterte. In der Morgenausgabe des eigenen Verlages suchte und fand er seine Premierenbesprechung im Feuilleton. Kaum gekürzt. „Super“, freute er sich. Auch die Stimmung in der Pause kam genau so rüber, wie er sie erfunden hatte. Jens schlug die Sonntagsausgabe der FAZ auf und suchte im Kulturteil die Kritik seines Konkurrenten.
„Der Besuch der alten Dame im hiesigen Stadttheater fiel leider aus, nachdem das gesamte Ensemble kurzfristig einer mysteriösen Darmerkrankung zum Opfer gefallen war. Die Theaterleitung prüft nun ...“
„Scheiße“, murmelte Jens.
„Was haben Sie gesagt?“, fragte der Taxifahrer.

***
Ist das erst zwei Jahre her?, überlegt Jens, während er die wenigen Stufen zur Bühne hinaufgeht. Frank Elstner kommt ihm mit ausgestreckter Hand entgegen, begrüßt ihn und wendet sich dann an das Publikum.
„Menschen der Woche“ heißt unsere Sendung und das, meine Damen und Herren, können Pechvögel, aber auch Glückspilze sein. Bei unserem heutigen Gast kommt beides zusammen. Jens Schillers Leben änderte sich nach einer Granatenpanne in seine jungen Journalistenkarriere. Erzählen Sie uns, wie es dazu kam?“
„Gern, auch wenn es für mich ein bisschen peinlich ist.“ Jens grinst – nur scheinbar verlegen – und fährt fort: „Meine Redaktion hatte mich zur Premiere von Dürrenmatts Besuch der alten Dame geschickt. Klar, war ich stolz.“
Er schildert mit lebhaften Gesten jenes Ereignis, und das Publikum schmunzelt. Hier und da gibt es einen Lacher. Entspannt lehnt er sich zurück.
„Und wie ging es dann in den nächsten zwei Jahren weiter?“, fragt Frank Elstner seinen Gast.
„Tja, Frank Schweiger, der Taxifahrer, war zugleich auch Psychologe, freischaffender Redakteur und Sohn. Und er entpuppte sich als seelischer Mülleimer für mich. Er las meine Rezension, fand sie gut, machte Feierabend und kam auf eine Tasse Kaffee mit zu mir nach Hause.“
„Und so begann, wie Sie mir erzählten, eine Freundschaft, die bis heute hält.“
„So ist es. Er sagte, sein Vater sei der Herausgeber eines bekannten Satiremagazins und versprach, mir einen Termin bei ihm zu vermitteln.“
„Sie waren aber noch Redakteur beim Tageblatt, oder?“
„Nicht wirklich. Ich wusste ja, was mich erwartete und hatte weder Lust, die `Ich-hab-es-ja-gleich-gewusst-Mienen` der Kollegen zu ertragen, noch das Donnerwetter des Chefs. Deshalb meldete ich mich am nächsten Morgen krank. Die Kündigung kam dann auch prompt und fristlos.“
Jens trinkt einen Schluck und zieht die Ärmel unter seinem Sportjackett länger.
„Schon drei Tage später hatte ich einen Termin bei Achim Schweiger. Die Chemie zwischen uns stimmte auf Anhieb. Er stellte mich ein. Zuerst war ich – sozusagen - Mädchen für alles. Nach einem halben Jahr erhielt ich ein eigenes Ressort.“ Jens schweigt, wartet auf die nächste Frage des Moderators.
„Sie wurden das Gesicht einer wöchentlichen Kolumne ´Fiktive Interviews`, die sehr bald ein Renner wurde.“
„Ja. Anfangs war ich selbst überrascht von den vielen positiven Reaktionen.“
„Kann man sagen, Sie sind in diesem Genre angekommen?“
„So kann man es ausdrücken. Ja.“
„Sie haben letzte Woche für „Mein Freund Goethe“ den Satirepreis Journalistik bekommen. Herzlichen Glückwunsch.“
Jens bedankt sich mit zweimaligem Kopfnicken für den einsetzenden Applaus des Publikums. Sein Blick geht zu seinem Chef und dessen junger, frisch angetrauter Ehefrau Ingrid. Beide hatten es sich nicht nehmen lassen, ihn in die Talk-Show zu begleiten.
„Danke sehr.“ Jens versucht, bescheiden zu wirken. Es gelingt nicht ganz.
„Gerade ist auch Ihr satirischer Gedichtband „Verschlafene Gelegenheiten“ erschienen. Wie kam es dazu?“
„Den Anstoß gab mein fiktives Interview mit Georg Christoph Lichtenberg.“
„Ein genialer Dichter und Denker und der feinsinnigste Satiriker seiner Zeit.“
„Das sehe ich genauso.“
„Herr Schiller, wann kommt eine Begegnung mit Ihrem gleichnamigen Vorfahren?“
„Ist schon in Arbeit.“
„Wir dürfen gespannt sein. Danke für Ihren Besuch bei „Menschen der Woche.“ Jens Schiller, meine Damen und Herren.“
“Ich danke Ihnen, Herr Elstner.“
Moderator und Gast erheben sich. Das Publikum applaudiert. Jens geht von der Bühne zu seinem reservierten Platz, während Elstner den nächsten Gast ansagt.
***

Heinz Lohmann und Dr. Ruppert begegnen sich am Kaffeeautomat.
„Hast du gestern Abend Elstners „Menschen der Woche“ gesehen?“
„Mist. Habe ich total verschlafen. Wie war er, der Jungspund und Satirepreisträger?“, fragt der Wirtschaftsredakteur.
„Na ja, wenigstens der Brilli in der Nase ist weg. Ich kann den Kerl trotzdem nicht leiden.“
„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“
„Äh, nein, also Talent, sich in der Öffentlichkeit zu produzieren hat er. Ja, das muss man so sagen“, murmelt Heinz Lohmann.
„Und meiner Meinung nach hat er auch den Preis verdient. Ich habe ein paar seiner Kolumnen gelesen. Du auch? Wirklich witzig, der Mann,“ grinst Dr. Ruppert.
Heinz Lohmann schüttelt den Kopf und zieht – scheinbar hochkonzentriert - seinen Kaffeebecher aus dem Automaten.
„Ich muss los, meine Bundesligaberichte warten.“

Version 3

Letzte Aktualisierung: 12.02.2014 - 16.25 Uhr
Dieser Text enthält 10196 Zeichen.


www.schreib-lust.de