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Verschlafen | Februar 2014

All you can fuck
von Helmut Loinger

„Sind Sie sich sicher?“, fragte Weilheimer den vor sich sitzenden Arzt, der redlich bemüht war, die Diagnose so schonend wie möglich zu überbringen.
Sein zaghaftes Kopfnicken ließ darauf schließen, dass selbst er solche Nachrichten nicht jeden Tag zu überbringen hatte. Weilheimer glaubte an ein Leben nach dem Tod, sehr sogar.

Das Hämmern in seinem Kopf erinnerte ihn an dieses wuchernde Etwas, das ihm die Zeit stahl, aber gleichzeitig irgendwie an ihm rüttelte. Es war wie ein Wecker, der laut schrillte und selbst durch vielfaches Draufhämmern nicht zum Schweigen gebracht werden konnte. Es sagte ihm klar und unmissverständlich: „Hol endlich nach, was du bislang versäumt hast. Hol das nach, wonach du dich sehnst, aber das dir verboten ist.“

Weilheimer gelang es nicht, den Hauch eines Schmunzelns zu unterdrücken. Seine Mundwinkel zuckten und der Arzt schien ob seiner Mimik einiger Maßen verwirrt zu sein. Er fügte hinzu: „Herr Weilheimer, es tut mir leid. Wir müssen leider davon ausgehen, dass der Befund positiv ist … also bösartig, meine ich.“

Nun strahlte er beinahe. Die offensichtlich in ihm aufkeimende Freude war ihm selbst unheimlich. Bevor der Arzt weiter krampfhaft versuchen konnte, Klarheit zu schaffen, fragte Weilheimer: „Wie lange noch?“.
Der Arzt schien beruhigt, dass seine Diagnose zumindest richtig verstanden wurde.
„Drei Monate, höchstens vier.“
Weilheimer lächelte still in sich hinein. Es war die Vorfreude auf diesen verdammt mickrigen Rest Leben, den er noch vor sich hatte.

Wenig später fand er sich auf der Straße wieder. Allein, inmitten von unzähligen umher eilenden Menschen, die ihre Gesichter in ihre Jacken steckten und versuchten, dem kalten Regen zu entkommen. Weilheimer verharrte vor einer roten Ampel und starrte in den grauen Himmel. Er spürte das Nass in seinem Gesicht, fühlte wie die kalten Tropfen ihn bedeckten, über Stirn und Nase glitten mitten in seinen buschigen grauen Schnauzer, den er schon seit den achtziger Jahren trug. Es fühlte sich gut an. Er zog sich die Schuhe aus und stopfte seine Socken rein. Der Boden war nass und kalt. Er spürte die Erde unter sich, spürte Leben in sich und er wollte mehr davon in der Zeit, die ihm noch blieb. Weilheimer spazierte durch die Straßen. Planlos, ziellos, aber auf der Suche nach Erfüllung.

Plötzlich blieb sein Blick an einem großen Plakat am Gehsteigrand haften. Es erinnerte ihn an eines dieser Männermagazine, die er abonniert hatte und deren Ausgaben er alle fein säuberlich in einem Schrank in seinem Schlafzimmer verstaut hatte. So, dass er sie jederzeit griffbereit hatte, wenn ihm danach war. Eine Schar fast unbekleideter, langbeiniger Models lächelte ihn von jenem Plakat herab an und forderte ihn auf: „All you can fuck!“. Darunter die Adresse des Freudenhauses, wo Mann für eine Flatrate eine unbegrenzte Anzahl Damen benutzen könnte. „Das wär‘ ein schöner Abgang“, sinnierte Weilheimer. Und er dachte an all die sündigen Dinge, die er nur von seinen Magazinen und dem Internet her kannte, aber selbst noch nie mit einer Frau getan hatte. Noch nie! Die Models auf dem Plakat und seine plötzlich dahin galoppierende Phantasie zeigten Wirkung. Seine Erektion war dank seiner Soutane nicht zu erkennen.

Weilheimer war stolz auf seine männliche Jungfräulichkeit und vor allem darauf, wie es ihm trotz aller Verlockungen gelang, standhaft zu bleiben. Doch das Wissen um die wenige Zeit, die ihm auf dieser Erde noch blieb, pflanzte einen Gedanken in sein ansonsten so frommes Gehirn: „Einmal! Nur ein einziges Mal!“ Er wandte sich ab und suchte verzweifelt nach einer Ablenkung. „Herr, warum musst du mich so prüfen?“, murmelte Weilheimer leise gen Himmel.

Letztendlich betrat er seine Kirche, in der Hoffnung, seine Gedanken dort wieder ordnen zu können. Dort war es kühl und es herrschte Stille. Er war allein, wie meistens wenn er hier herkam, um IHN um Hilfe zu bitten, um Rat oder um Vergebung. „Herrgott verdammt, was soll ich bloß tun?“ fluchte er halblaut vor sich hin, vor dem Altar knieend, das Gesicht in seinen Händen versteckt. Er sollte nicht fluchen. Er durfte eigentlich nicht fluchen. Schon gar nicht in der Funktion, die er innehatte.

Weilheimer sprach zu seinem Gott: „Immer wieder habe ich versucht, diese Wollust aus meinem Körper zu treiben. Mit allen Mitteln. Ich habe mich gegeißelt, habe meinen Körper kasteit und malträtiert, bin Marathon gelaufen, in der Hoffnung mein Geist würde mir gütige Gedanken schicken. Doch selbst beim Laufen war ich vor der Wollust nicht gefeit. Sie überfiel mich in Form von vor mir joggenden Frauen, deren Gesäß wippte, deren Brüste sich auf und ab bewegten und mich innehalten ließen, mich dazu nötigten hinter einem Gestrüpp mir Erleichterung zu verschaffen.“

Der Herr schien einigermaßen verwundert über diese Beichte zu sein, denn er blieb sprachlos und antwortete seinem Diener nicht.
„Du verzeihst mir doch, Herr?“ flehte Weilheimer, faltete seine Hände zum Gebet und sah ihm direkt in die Augen, dem Herrn Jesus, der da an seinem Kreuz hing. Aber er antwortete noch immer nicht, sein Jesus. Er gab ihm kein Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

„Mein Herr, dieser Drang in mir ist so stark, dass ich es nicht schaffe, ihm zu widerstehen. Ich weiß, es ist Sünde, doch im Angesicht des Todes, der schon so nah ist, kann und will ich die Erfahrung in diesem Leben nicht missen. Ich werde nun dich und diesen Ort hier verlassen und mich auf den Weg zu diesem Freudenhaus begeben, wo ich mich der leiblichen Wollust hingeben werde“, predigte Weilheimer heute zu Jesus und nicht zu seiner Gemeinde.

„Ich weiß, du wirst mir deinen Segen für diese Sünde verweigern. Doch ich appelliere an deine allumfängliche Barmherzigkeit und flehe dich bereits jetzt präventiv um Vergebung an. Amen.“, schloss der Priester zeitgleich mit dem Donnern eines Blitzeinschlages, der sich nur unweit der Kirche entladen hatte. Weilheimer ignorierte dieses recht eindeutige Zeichen seines Schöpfers und stahl sich, vollgestopft mit Testosteron und seinem schlechten Gewissen, aus der Kirche.

Wenig später stand der Priester, wie immer in modischem Schwarz gekleidet, erneut vor einer roten Ampel. Die Sonne quälte sich schön langsam durch die sich verziehenden Gewitterwolken bis runter auf Weilheimer’s Füße, die schon wieder nackt auf der Erde standen. Weilheimer wollte nicht auf das grüne Signal warten. Er konnte nicht mehr warten. Dafür war keine Zeit mehr. Schon wieder fühlte er sich lebendig wie selten zuvor. Weilheimer machte zwei Schritte, lächelte in den Himmel, während sich eine Straßenbahn bemalt mit einer Schar fast unbekleideter, langbeiniger Models von rechts auf ihn zu bewegte. „All you can fuck“.

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Letzte Aktualisierung: 27.02.2014 - 23.27 Uhr
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