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Verschlafen | Februar 2014

Riannas Zeitreise
von Sylvia Schöningh-Taylor

Rianna langweilte sich. Seit Stunden kraxelte sie nun schon mit ihrem Geologiekurs im Steinbruch herum und musste sich Davids langweiligen Vortrag anhören. „Im Gegensatz zu vulkanischen Gesteinen sind Granite Tiefengesteine…“ Seit gestern wusste sie, dass ihr Professor auch im Bett weder Vulkan- noch Tiefengestein war, sondern nur ein schlaffer Nerd. „Wir unterscheiden zwischen Granodioriten, Tonaliten, Monzoniten sowie Dioriten, je nachdem…“ Sie gähnte und ihr Blick fiel auf Sebastian, der hektisch jedes Wort seines Lehrers in sein Tablet tippte. Der Mann hatte wirklich ein herrliches Profil, das musste sie ihm lassen, aber dahinter steckte bestimmt auch nur ein Nerd wie bei den meisten männlichen Studenten in ihrem Fachbereich. Was war nur mit den Männern los? Glaubten sie wirklich ernsthaft, das neue Flash Game auf ihrem Smartphone löse bei Frauen die gleiche orgiastische Begeisterung aus wie bei ihnen? Ihre Augen wanderten über die Adern des Feldspats, über die David gerade doziert hatte. Rianna seufzte. Wäre sie doch bloß in eine heiße Epoche geboren worden wie jene, aus der dieses glitzernde Gestein hervorgegangen war.

Da gewahrte sie eine schmale Höhle im Felsen, hinter dem die Gruppe gerade verschwunden war. Sie kroch hinein. Vor sich sah sie ein stählernes kleines Raumschiff, dessen Form den Raketen glich, die sie als Kind so gern gezeichnet hatte. Sie stieg ein, machte es sich auf dem smaragdgrünen Sitz bequem und studierte das Armaturenbrett, welches in seiner Einfachheit ganz auf sie zugeschnitten schien. Es gab nur einen großen Hebel, der sich entweder nach links bewegen ließ in Richtung FRÜHER oder nach rechts in Richtung SPÄTER. Eine Zeitmaschine, wie wunderbar, schrie Rianna, ergriff den Hebel und schwenkte ihn kurzentschlossen nach links.

In einem sanften Tempo gleitet die Zeitmaschine aus der Höhle, nimmt Fahrt auf und rast in die Geschichte hinab. Rianna erblickt aus ihrem Cockpitfenster Matrosen des ersten Weltkriegs, die Gewehre auf ihre Offiziere richten, die sie zu einem Himmelfahrtskommando verdonnern wollen. Gleich darauf schlingert die Kapsel durch die Schützengräben, übersät von verstümmelten Soldaten, die im Todeskampf nach ihren Müttern rufen. Rianna graut es, aber schon ist die Kapsel weitergeflogen. Sie sieht sich Auge in Auge mit einer Gruppe englischer Suffragetten in langen Kleidern der Jahrhundertwende, die sich einem Trupp berittener Polizei entgegenwerfen. Ich danke euch, ruft Rianna, ihr habt es auch für mich getan. Da ist die Zeitmaschine schon beim nächsten Krieg angelangt. Ist den Männern denn nie was anderes eingefallen, als Kriege zu führen, stöhnt sie verzweifelt und verstummt erst, als die Kapsel sich in den Sturm auf die Bastille verheddert, was Rianna ein paar blaue Flecken beschert, denn es gibt in der ganzen Zeitmaschine keinen Sicherheitsgurt. Obendrein benutzt eine resolut voranschreitende Bäuerin die Kapsel als Schlaginstrument, umringt von einer Gruppe aufgebrachter Pariserinnen. Recht so, flüstert Rianna, dies ist ein Kampf für eine bessere Zukunft. Die Kapsel hat sich inzwischen beschleunigt und rast auf ein dunkle Landschaft zu. Da sind sie schon, die Kathedralen des mittelalterlichen Spaniens, wunderschön, aber leider eingehüllt in dicke rußige Rauchschwaden. Rianna kneift die Augen zusammen: Oh nein, Hexenverbrennungen im großen Stil, die Herren der Inquisition lesen begierig den Hexenhammer. Halt, schreit Rianna, es reicht. Ich will zurück in mein Jahrhundert! Sie ergreift den Steuerhebel der Zeitmaschine mit beiden Händen und reißt ihn in die andere Richtung. Für einen Moment dreht sich die Kapsel wie ein Kinderkreisel, so dass Rianna gegen die Wand gepresst wird. Sie hält den Atem an. Bitte, bitte, mach, dass ich nach Hause komme, lieber ComputerNerds als Hexenhammer. Als sie das Gefährt gleichmäßig Fahrt in die andere Richtung aufnehmen spürt, atmet sie auf. Sie bemerkt erst jetzt, wie müde sie die Zeitreise gemacht hat. Durchs Fenster sieht sie gerade Voltaire mit Friedrich dem Großen durch Sanssouci wandeln. Das ist gut, murmelt Rianna, jetzt mach ich mal ein Nickerchen, es kommen ja noch ein paar Kriege, bis ich wieder im digitalen Zeitalter bin. Sie ist stolz auf ihre FünfMinutenTiefschlaf Kunst.

Mit einem Ruck wacht Rianna auf und schaut ins Zeitfenster. Was sie dort sieht, treibt ihr den Panikschweiß in jede Haarwurzel: Sie hat ihr eigenes Zeitalter verschlafen. Die gläsernen Wolkenkratzer kommen ihr zwar bekannt vor, nicht aber dieses fahle Licht. Sie muss sofort herausfinden, in welcher Zukunft sie sich befindet. Das wird ihr helfen bei der Orientierung zurück ins Computer Nerd-Zeitalter. Blitzschnell legt sie den Steuerknüppel auf die Nullposition. Die Kapsel landet lautlos und sanft auf dem grasbewachsenen Dach eines Shopping Centres. Rianna klettert ein bisschen steif aus der Zeitmaschine, bückt sich, befühlt das Gras: künstlich. Sie geht das Treppenhaus hinab und betritt die Straße. Das Licht wirkt wie von einer großen Neonröhre kommend. Sie schaut zum Himmel, aber da oben macht sie nur eine riesige Taucherglocke aus. Sie schaut sich suchend nach Menschen um. Dann betrachtet sie die Fahrzeuge, die auf mehreren Spuren laut- und geruchlos dahingleiten. Sie sind bemannt, die Insassen wirken seltsam leblos. Ein kleiner, altmodisch wirkender Wagen parkt links von ihr. Die Fahrerin, eine junge Frau im grauen Jogginganzug, steigt aus und geht in die Shopping Mall. Rianna geht zum leeren Wagen und schaut hinein: Sie haben in der Zukunft offensichtlich das Lenkrad durch einen Computer ersetzt. Sie betritt den Supermarkt: Auch hier völlige Stille. Sie folgt der jungen Zukunftsbewohnerin und staunt über das Warenangebot: Lauter chemische Imitate von ihr bekannten Lebensmitteln. Die Weltsprache der Zukunft scheint Englisch zu sein, denn die Produktbeschreibung sowie die langen chemischen Verbindungen auf den Kunstprodukten sind in englischer Sprache angegeben. Ein Werbeplakat fällt ihr auf: THE REAL THING IS BETTER THAN THE NATURAL THING. Das Gemüsefach wird zum Schockerlebnis: Nicht ein einziges Exemplar Frischobst oder Gemüse, nur grellbunt eingefärbte Kunst-Äpfel, -Bananen,-Orangen. Die junge Frau im Jogginganzug scannt den Bar Code an jedem Artikel, bevor sie ihn in ihren Wagen legt. Am Check out gibt es keine Kassierer, nur einen Kasten, in den der Scanner gesteckt und der Einkauf mit Karte bezahlt wird. Es gibt wenige Kunden im Supermarkt. Die Joggerin scheint ein altmodischer Zukunftsmensch zu sein, der noch einkaufen geht.

Rianna tritt hinaus in die Shopping Mall. Sie muss einen Hinweis finden, in welcher Zukunftsepoche sie gelandet ist. Hier draußen sind mehr Menschen zu Fuß unterwegs. Äußerlich sehen sie aus wie die ihrer eigenen Epoche. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Niemand nimmt den anderen wahr, denn alle tragen eine kleine Brille. Alle Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, was sie darin sehen. Stumm gehen sie aneinander vorbei. Mütter mit Kindern in bionisch geformten Buggies sind mit sich beschäftigt, die Kinder ebenso, denn auch sie tragen die Brille. Es herrscht ein bedrohliches Schweigen im gesamten Einkaufszentrum. Aus den Läden klingt keine Musik, jeder scheint in sein Programm eingestöpselt zu sein. Eine Welt von Autisten. Rianna fröstelt es. Am anderen Ende des Shopping Centres angekommen, hört sie plötzlich doch menschliche Stimmen. Eine große Freude lässt sie den Stimmen folgen und aus dem Hintereingang der Mall treten. Die Stimmen kommen aus dem Innern riesiger Stahlkäfige, die den Platz überziehen, soweit das Auge reicht. Darin sieht sie viele Menschen sitzen oder stehen. Alle tragen eine orangenfarbene Uniform, jedoch keine Brillen. Stattdessen sind sie einander im lebhaften Gespräch zugewandt. Manche lachen, Paare halten sich umschlungen; andere weinen und protestieren lautstark gegenüber den bewaffneten Soldaten, welche die Käfige bewachen, schwarze Brillen auf der Nase. Riannas Blick wandert zu einer riesigen Leuchttafel, die zwischen zwei Stahlträgern hoch über dem Gefängnis der Kommunizierenden angebracht ist. 2149 – DAS JAHR DES ENTSCHEIDENDEN SIEGES ÜBER DIE MENSCHLICHE UNVOLLKOMMENHEIT.

Rianna macht auf dem Absatz kehrt und findet sofort einen Fahrstuhl, der sie zum begrünten Dach der Shopping Mall bringt. Dem Himmel sei Dank, da steht noch ihre Zeitkapsel. Sie schwingt sich auf den Sitz und reißt den Schalthebel in Richtung Vergangenheit. Eine Minute lang geschieht nichts. Und in dieser Minute kommt erst die Schockwelle über Rianna. Diese grauenvolle Zukunft gilt es zu verhindern. Und sie will jetzt, in ihrer eigenen Epoche, damit beginnen. Das vertraute Vibrieren des Gefährts unter ihrem Po macht sie glücklich. Im nächsten Moment fliegt die Zukunft rückwärts an ihr vorbei. Diesmal mag sie gar nicht so genau hingucken, wie es zu der Verirrung der Menschheit gekommen ist, deren Zeugin sie gerade geworden ist. Sie zwingt sich jedoch zum genauen Hinschauen, denn sie möchte ihre Gegenwart auf gar keinen Fall verschlafen. Als sie die ersten Obstbäume und grünen Flusslandschaften sieht, weint sie vor Freude. Jetzt aber aufgepasst. Merkwürdigerweise verlangsamt die Kapsel von allein die Fahrt und setzt in der Höhle im Steinbruch auf. Rianna läuft um den Felsen herum, aber die andern sind weg und es ist dunkel geworden.

Am Abend klingelt es Sturm bei dem Geologie-Studenten Sebastian Steiner. Er hätte es fast nicht gehört, weil er sich schon seit Stunden mit seinen drei Protagonisten durch GRAND THEFT AUTO V ballert. Aber Rianna lässt nicht locker, schlüpft mit einem Anwohner durch die Haustür und trommelt mit den Fäusten gegen Sebastians Wohnungstür. Er öffnet. Rianna zieht als erstes den Stecker raus. Dann küsst sie Sebastian auf den Mund und sagt: „Lass uns miteinander reden, ja?“



Letzte Aktualisierung: 16.02.2014 - 19.19 Uhr
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