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Schmelzpunkt(e) | März 2014
Den See queren
von Jolanda Pankow

Ich blickte auf die weiße Fläche vor mir. So weit ich sehen konnte, war der See zugefroren, obwohl die Temperatur erst seit einigen Tagen deutlich unter null Grad lag. Eine dünne Schneeschicht bedeckte das Eis. Vereinzelte Tierspuren kreuzten, kleine dunkle Punkte, aber ansonsten war es einfach nur ne weiße Fläche, die mir im Weg war.
Mein Atem bildete Dampfwolken vor meinem Mund und ich hasste mich dafür, dass ich hier stand, statt einfach loszugehen, wie ein richtiger Mann das getan hätte. Paul würde drumherumlaufen, so viel war sicher. Paul war ein Schisser und hatte nicht mehr Arsch in der Hose als ein … - egal was. Ein Schisser eben. Und daher war es egal, ob ich hier noch ne Minute stand oder auch ne Zigarettenlänge lang. Weil er drumrumlaufen und verlieren würde. Wenn ich einfach über das Eis ging, sparte ich 45 Minuten. Mindestens. Also konnte ich es auch ruhig angehen. Ruhig und systematisch. Stark und sicher.

Ich überlegte, ob es ne Stelle gab, an der ich gut rüberkam. Strategisch gesehen. Ich ging die paar Schritte den Hang runter zum Ufer und trat testweise auf das Eis. Es hielt. Um auf Nummer sicher zu gehen, wagte ich einen Hüpfer. Schließlich sprang ich, so hoch ich konnte. Das Eis hielt. Das war gut.

Ich stieg wieder hoch und überblickte den See. Es gab weiter links ne dunkle Stelle, da war der Schnee irgendwie geschmolzen. Ich nahm an, dass die Strömung da langging und das Wasser in Bewegung und daher wärmer war. Davon würde ich mich fernhalten. Ich kannte den See, mein Vater hatte mich öfter zum Angeln mitgenommen. Auch zum Eisangeln. Jetzt waren keine Löcher auszumachen, es war noch nicht lange genug kalt. Aber das machte nichts. Ich kam auch so rüber. Weil ich Mumm hatte und das allen beweisen würde.
Ich kannte den See. Ich wusste, dass die Strömung längsdurchging, vom Zufluss zum Abfluss, aber nicht genau längs, weil der See ne längliche Form hat, mit dem Abfluss an der einen Längsseite. An der, die mir gegenüber lag. Ich konnte um den Abfluss rumtapern, wenn ich mich auf dem Eis rechts hielt. Genau das war der Plan, der sich langsam, während ich da stand und mir ne Fluppe drehte, herauskristallisierte. Ich würde am Rand lang machen, das war sicherer. Immer parallel zur Strömung, in einiger Entfernung. Und dann, wenn ich an der Stelle vorbei war, wo auf der anderen Seite der Abfluss war, würde ich den See queren.
Ich schnippte die Zigarette auf's Eis - sie zischte nicht mal, sondern erlosch einfach - und ging entschieden vorwärts. Ich hatte nur kurz gestanden, aber es hatte gereicht, um kalt zu werden, auch deshalb bewegte ich mich schnell. Ich wusste, dass Paul zwar jetzt vor mir war, dass ich ihn aber abhängen würde. Deshalb hätte ich auch langsam gehen können. Ich ging schnell, weil mir kalt war.

Das Ufer stieg langsam an. Man kam unten nicht wirklich gut lang, das wusste ich. Es war morastig an dieser Stelle. Zu gefährlich. Deshalb machte ich oben lang, bis zu der Stelle, an der man sich runterrutschen lassen konnte. Unten betrat ich das Eis und ging los.

Es war total ruhig. Wenn der Wind von Westen weht, kann man an der Stelle die Autobahn hören, aber offenbar kam er nicht aus dieser Richtung. Es war so gottverdammt still, dass ich dachte, Paul würde das Geräusch meiner Schritte auf dem Eis bis zum anderen Ufer hören. Und wenn er es wirklich hörte, dann würde er mir vielleicht folgen. Paul ist ne Memme, aber im Laufen macht ihm keiner was vor. Daher ging ich vorsichtig. Um leise zu sein. Ich schritt über den See wie Jesus über's Meer.
Als ich vom Ufer abbog, bildete das Wasser ne riesige weiße Fläche um mich rum. Die Bäume am Ufer standen elend weit weg und ich fühlte mich wie der einzige Mensch auf der Welt. Das war ein scheiß Gefühl: nur ich und der See und das Dunkle unter dem Eis.
Ich dachte an die Jungs, die mich am Zielpunkt erwarten würden und daran, dass ich, wenn ich erstmal über den See war, nur noch ne gute Viertelstunde zu laufen hatte. Bestimmt saßen die jetzt schön warm in Matzes Karre und genossen die Freuden der Standheizung. Und bald würde ich bei ihnen sitzen und sie würden mir auf die Schultern klopfen und die Friererei war vorbei. Das hielt mich bei der Stange. Ich ging gleichmäßig und ruhig und schaute nach vorn, nicht nach unten, wo meine Schuhe manchmal den Schnee beiseiteschoben und das Schwarz durchschimmerte.
Das andere Ufer war schon ziemlich weit ran, als ich plötzlich was sah, auf dem Eis. Ich hatte mich ja wegen der Strömung rechts gehalten und immer nur gradeaus geschaut. Aber dann war da ne Bewegung im Augenwinkel und ich schaute nach links. Da hatte das Eis ne komische Farbe. Ich wollte nicht langsamer werden, also ging ich schnell weiter, aber ich musste einfach zur Seite schauen, ich konnte nicht anders. Da sah das Eis dunkel aus. Ich fragte mich, ob die Eisangler doch schon draußen gewesen waren und sagte mir, dass alles okay sei.
Es gab ne Bewegung dort auf dem Eis. Manchmal stellen sie Fahnen auf, um ihre Löcher wiederzufinden und manchmal sind die Flaggen ziemlich weit unten. Die Bewegung war sehr weit unten. Sie schien direkt aus dem Schwarzen zu kommen. Ich überlegte kurz, ob ich mir das näher ansehen sollte, aber wenn das Eis dort wirklich geschmolzen war, würde ich nicht mal annähernd bis ran kommen. Ich kannte den See. Das Eis war dünn und darunter war es schwarz und gefährlich.
Dann dachte ich an die Jungs und an die Zeit und ging weiter gradeaus. Ich schaute nicht mehr hin. Man muss sich auf sein Ziel konzentrieren hat mein Vater immer gesagt und genau das tat ich.
Kurze Zeit später kreuzte ich eine Fußspur. Es war die Spur von jemandem mit großen Füßen, und das Komische war, dass ich sie zwei Mal kreuzte. Ich schaute nach vorn, auch als das Eis begann, komische Geräusche zu machen. Mein Impuls war, zu rennen, vom Ufer weg auf den offenen See raus zu rennen, weil die Geräusche vor mir waren. Aber ich widerstand und ging stetig weiter auf's Ufer zu.
Dann brach ich ein. Ich bekam einen riesigen Schreck. Das Schwarze griff nach mir und Panik überschwemmte mich. Ich schrie und schlug wild um mich, bis ich merkte, dass ich nicht unterging, weil das Wasser mir nur bis zum Bauch ging. Ich würde davonkommen. Also watete ich an Land. Es platschte und spritzte und bei jedem Schritt splitterte Eis, vermischten sich Schwarz und Weiß. Als ich das Ufer erreicht hatte, überlegte ich, ob ich die Hose ausziehen und auswringen sollte. Ich entschied mich dagegen, weil ich nicht sicher war, ob ich das nasse Ding wieder an mich ran bringen würde.
Ich rannte fast zum Treffpunkt, hinterließ dunkle Tropfen im Schnee, die nur langsam weniger wurden. Ungefähr auf der Hälfte der Strecke überfiel mich ein unkontrollierbares Zittern und ich fluchte, weil es scheiße aussehen würde, wenn ich so dort ankam. Ich kam mir voll jämmerlich vor, aber so sehr ich es versuchte, das Zittern hörte nicht auf. Andererseits zeigte mein Einbruch, dass ich etwas gewagt hatte. Ich hatte es über das Eis geschafft und das war alles, was zählte. Ich hatte so gut wie gewonnen.

Als ich beim Treffpunkt ankam, war kein Arsch zu sehen. So wie ich drauf war, dachte ich erstmal, dass ich mich geirrt und den falschen Weg genommen hatte. Wenn ich mich verlaufen hätte, wär ich geliefert gewesen, weil es zu weit war bis zum nächsten Ort.
Dann sah ich Matzes Karre. Der Wagen parkte etwas weiter vorn, an der Stelle, wo die Straße grade noch mehr Belag als Schlaglöcher hat. Matze konnte nicht weit weg sein. Ich rief ein paar Mal laut. Als niemand kam, ging ich auf das Auto zu. Ich wusste, dass Matze immer nen Ersatzschlüssel unter der hinteren Sitzbank hatte und die Karre fast nie abschloss, also ging ich einfach rein und schaltete die Standheizung ein. Ich schlotterte wie blöde und überlegte, ob ich mich aus der Hose pellen sollte, um die Sitze zu schonen, und als die Zeit verstrich, hatte ich mich bestimmt zehn Mal dafür und ebenso oft dagegen entschieden. Letztlich ließ ich alles an. Ich saß da und zitterte und mein Kopf war irgendwie wirr.
Komischerweise kam niemand. Nach gut zwanzig Minuten begann ich zu hupen. Es gab keinerlei Reaktion. Ich schmiss die Karre an, fuhr zu mir nach Hause und wechselte die Klamotten. Alle fünf Minuten schaute ich auf mein Handy und zappte durch die Nummern, unsicher, wen ich anrufen konnte. Ich sagte mir immer wieder, dass ich gewonnen hatte, dass die Karre der Beweis war. Ich hätte das Auto ja nicht mitnehmen können, wenn ich nicht als Erster dort angekommen wäre. Aber dann dachte ich wieder an das Schwarze und an die Bewegung auf dem Eis und das Zittern wurde stärker und das Schwarze mischte sich mit dem Weißen und ich kriegte nix mehr gradeaus gedacht.
Am Abend versank ich in Fieber. Ich packte mich ins Bett, träumte von Farbspiralen in Schwarz und Weiß, die miteinander rangen, und hatte das Gefühl, mich irre anstrengen zu müssen, um nicht unter das Eis zu geraten. Das Handy blieb stumm.
Irgendwann kam meine Mutter und sagte was über Paul. Ihr Gesicht sah ganz weiß aus. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ob ich es wirklich über das Eis geschafft hatte.

Letzte Aktualisierung: 25.03.2014 - 17.36 Uhr
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