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Schmelzpunkt(e) | März 2014

Alles, was echt ist
von Wolf Awert

Alexander fluchte leise vor sich hin, als er seinen Schrank nach einem schwarzen Hemd durchwühlte. Seine Cordhosen waren stilecht. Bei den polierten Silberschnallen an den Stiefeln war er sich nicht sicher. Egal. Ein Mann muss zeigen, was er hat. Sonst wird er beiseitegedrückt. Mist nur, dass das schwarze Hemd in der Wäsche war. Hätte Georg mit der Zeremonie noch zwei Tage gewartet, hätte seine Mutter ihm das Hemd frisch gewaschen und gebügelt gehabt. Aber Georg war ja eh eine Lachnummer.

Alexander fand ein Hemd in Dunkelviolett. Das musste reichen. Georg, dieser selbsternannte Meister der schwarzen Dämonenbeschwörer würde staunen.

Wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, hieße der Zirkel „Mitte der Schwarzen Magie“ oder „Auge der Hölle“. Aber nur Geduld. Noch war das letzte Wort nicht geflüstert und der Schlussstein noch nicht gesetzt. Ab heute Abend würde er dazu gehören. Und das allein zählte.

Alexander knöpfte das Hemd zu und ging seinen Plan noch einmal Schritt für Schritt durch. Dann schaute er auf die Uhr. „Viertel vor zehn, ist Zeit zu gehen“, reimte er selbstzufrieden. Alexander warf sich einen Beutel über die Schulter.

Sie trafen sich immer bei Georg, und Georg bestimmte auch die Uhrzeit. Aber dunkle Rituale führt man um Mitternacht durch und nicht um zehn Uhr. Nur war Mitternacht für Georg zu spät. Er müsse morgens immer früh raus, sagte er. Als wenn das eine Leistung wäre.

Alexander hatte nicht weit zu gehen. Nur nach nebenan, durch die Gartenpforte zur Kellertür. Georg erwartete ihn schon. Neben ihm standen Jan und Mark. Sie waren Erster und Zweiter Adept des Zirkels. Fehlte nur Lucy.
„Lucy kommt etwas später“, sagte Georg, der Alexanders suchenden Blick bemerkt hatte.
Ja, Lucy. Das war eine Frau! Als Einzige würdig in so einem Kreis.

Dass Lucy eigentlich Marianne hieß, war Alexander egal. Auch, dass sie sich Lucifera nannte. Aber Lucifera war zu lang und unbequem auszusprechen. Ihren Namen durchzusetzen war ihr nicht gelungen. Aber das war auch das Einzige, was ihr nicht gelungen war. Lucy war die Königin der Dunkelheit und der einzige Grund, warum Alexander sich in diese lächerliche, dunkle Kluft geworfen hatte. Und Lucy war nicht Georgs Freundin. Das hatte er bereits herausbekommen.

Es klopfte. Sie war gekommen. Zeit, in die Tiefe der Hölle abzusteigen.

Georg warf sich einen dunklen Umhang über die Schultern und ging voran. Eine steile Treppe hinunter, vorbei an Holzverschlägen, durch die der Geruch von Kohleresten, Kartoffeln und Staub wehte, ein kurzes Stück Gang entlang und dann durch eine Eisentür.

Alexander wusste nicht, was das hier für ein Raum war und auch nicht, wie es Georg gelungen war, ihn in Besitz zu nehmen. Aber er verstand nun, warum Georg der Meister war. Wenn er ihn ersetzen wollte, brauchte auch er eine Bühne. Aber immer eines nach dem anderen.

Neugierig schaute er um sich. Ein letztes Licht der trüben Lampe aus dem Kellergang reichte aus, um sich nicht irgendwo eine Beule zu holen. Alexander schob sich an der Wand entlang und fuhr mit der Hand über einige Eierkartons, die dort festgeklebt waren.

„Schallschlucker“, murmelte er überrascht.
Wie zur Bestätigung seiner Gedanken gab es einen Rums, als der Erste Adept über ein Schlagzeug stolperte, das unter einer zerrissenen Plane ruhte.
„Passt doch auf“, grollte Georg.

Die beiden Adepten stellten Kerzen auf den Boden. Das war eine gute Idee, denn nun strahlte der flackernde Schein nach oben, beleuchtete das Kinn und den unteren Teil der Stirn und malte große schwarze Augenhöhlen in weißliche Gesichter.

„Tritt vor, Alexander“, sprach Lucifera.
„Deinen Rucksack kannst du stehen lassen. Den brauchst du jetzt nicht“, fuhr Georg dazwischen.
Alexander zögerte.
„Ach, lass ihn. Der Rucksack ist dunkel und kaum zu sehen.“
Alexander war seiner Lady of Darkness dankbar. Jetzt war keine Zeit für Streitereien.
„Knie nieder.“

Alles lief beinahe so ab, wie Alexander es befürchtet hatte. Georg war ein Esel. Keine Erhabenheit, keine Würde, keine Magie, nur hohle Worte. Am Ende nahm Georg Alexanders Kopf zwischen seine beiden großen Hände, zog ihn zu sich heran und küsste ihn auf die Lippen. Ekelig!

„Durch den Kuss vereint“, sagte Georg.
„Durch den Kuss vereint“, murmelten die beiden Adepten.
„Durch den Kuss vereint“, flüsterte Lucifera, als sie an Georgs Stelle trat und Alexanders Lippen zart berührte. Ihre Hände waren nicht so fest wie die des Meisters, und ihr Kuss dauerte länger. Alexander hoffte, sie würde ihn nie mehr los lassen.

„Du bist jetzt einer von uns“, sagte Georg. „Du bist von nun an der Dritte Adept.“
Alexander verbeugte sich. Seine Stimme klang rau, als er sagte: „Ich danke dem Zirkel, aber wir sind noch nicht fertig.“

Die beiden anderen Adepten erstarrten, das Gesicht des Meisters verfinsterte sich und erhielt im Licht der Kerzen beinahe etwas Dämonisches. Lucy hob erstaunt eine Augenbraue. Alexander bekam davon nichts mit. Er öffnete seinen Rucksack, nahm ein Seil, ein Stück Kreide und eine schwarze Schülerkladde mit Eselsohren heraus und schob den leeren Sack zur Seite.

Mit geübter Hand zog er einen Kreidekreis und kritzelte einige unleserliche Zeichen auf den Boden, von denen er zwei mit dem Seil verband.
„Himmel und Hölle, Dunkel und Licht“, flüsterte er.

„He“, sagte Georg, „und wer macht die Sauerei nachher wieder weg?“
Alexander hörte nicht hin. Er betrat den Kreis und öffnete seine Kladde, in der er alle Geheimzeichen und magischen Sprüche gesammelt hatte, die er in der Stadtbibliothek hatte finden können.

„Tretet zurück. Ich spreche jetzt die magischen Worte und rufe den ersten Dämon.“

Alexander begann Worte vorzulesen, deren Kraft in Dunkelheit und Kerzenlicht zu wachsen schien. Nach dem ersten Satz schaute er hoch. Die Adepten lauschten gebannt und Lucy schien beeindruckt. So sollte es sein, stellte Alexander zufrieden fest. Was ging ihn jetzt noch Georg an. Er las den zweiten Satz und stockte. Ungebeten und absolut nicht eingeladen erklang die Stimme von Opa Jablonski in seinem Kopf:

„Geh nie in den Pütt, mein Junge, wenn du es vermeiden kannst.“ Das hatte er immer gesagt. „Mit jedem Hammerschlag kommst du dem Fürst der Hölle näher, und niemals wirst du wissen, wann du dran bist.“ Und dann hatte er sich immer bekreuzigt. Wie jeder gute Katholik.

Alexander räusperte sich, schaute in seine Kladde und fand die Stelle nicht wieder, an der er abgebrochen hatte.
„Scheiß drauf“, dachte er und rief dann den fürchterlichen Namen jenes Wesens in die Dunkelheit des Kellers, den er auf Seite 483 des Bandes „Geheimnisse dunkler Mächte“ von Pokrati aus dem Merlin-Verlag, Berlin, gefunden hatte.

Für einen Augenblick herrschte Stille und niemand bewegte sich. Alexander ließ ganz kurz eine kleine rote Leuchte aufblitzen, die er über seinem Herzen am Hemd festgesteckt hatte. Nach einer Beschwörung hatte etwas zu geschehen. Und wenn nichts geschah, musste man eben selbst dafür sorgen. Er war kein Freund leerer Worte.

Georg bewegte sich. Er hatte nicht vor, sich die Sache aus der Hand nehmen zu lassen, aber Alexander schrie:
„Steht still! Alle. Und rührt euch nicht.“

Und dann ging ein Zittern durch die Kellerwände, der Boden erbebte, und ganz unten, tief in der Erde, erhob sich ein leises Grollen. Es verklang, ertönte erneut und wurde lauter. Ein Kreischen wie aus weiter Ferne, das in einem Seufzen verklang, gesellte sich hinzu. Das Grollen wurde lauter, ähnelte dem eines heranbrausenden Zugs. Der voraneilende Wind wirbelte den Staub auf. Dann ein letztes Ächzen, und der Boden gab nach.
Dort, wo zuvor noch der Kreidekreis gewesen war, gähnte nun ein Loch. Dann brachen die Kanten nach, und auch der Rest des Kellerraums verschwand. Das Becken des Schlagzeugs schepperte noch einmal kurz, als es gegen einen Stein schlug. Dann herrschte Totenstille.

Das Beben war auch außerhalb des Hauses nicht unbemerkt geblieben. Noch in derselben Nacht rückte das Technische Hilfswerk aus, und auch die Untere Bergbaubehörde wurde informiert.

„Wie gut, dass nicht mehr passiert ist. Das Haus selbst steht noch. Es hat nur den Anbau erwischt. Aber hier muss trotzdem ganz schnell was geschehen. Wahrscheinlich wieder einer dieser Uraltschächte, die in keinem Plan verzeichnet sind.“
Einer der Fachleute nickte. „Wir werden versuchen, den Verlauf des Schachtes zu ermitteln, und dann kommt da eine Betonplombe rein.“ „Aber vorsichtig mit schwerem Gerät“, sagte ein anderer. „Hier ist alles untertunnelt.“

Die Vermisstenanzeigen gingen bei der Polizei erst am Nachmittag des nächsten Tages ein.

Letzte Aktualisierung: 20.03.2014 - 23.07 Uhr
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