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Schmelzpunkt(e) | März 2014

Der Gärtner
von Sylvia Schöningh-Taylor

John hackte wütend auf das Wurzelwerk des Rhododendrons ein. Diese Pflanze hätte man nie nach Europa holen sollen. An den Hängen des Himalaya war sie mit ihren tiefroten Blütendolden und den glänzenden Blättern eine Erscheinung von atemberaubender Schönheit. Hier aber, im Virginia Water Park, überwucherte sie die einheimische Vegetation und grub mit ihren ausufernden Wurzeln den Frühlingsblumen das Wasser ab. Die Arbeit war schweißtreibend und ging nur langsam voran. Der Rhododendron war es gewohnt, sich an steilen Gebirgshängen festzukrallen und verhielt sich auch im hügeligen Südengland seiner Natur gemäß. John richtete sich für einen Moment auf, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Drüben an der Fast Food-Bude quollen schon wieder die Abfalleimer über und der böige Wind hatte Colabecher und Papierteller auf die Uferböschung geweht. Er fluchte leise. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten die Affen gar nicht aus den Bäumen kommen sollen. Damals hatte die Schändung des Planeten begonnen. Der Mensch war eine Fehlentwicklung der Evolution, soviel stand für ihn fest. Die sogenannte kulturelle Höherentwicklung dieser dekadenten Spezies war in Wirklichkeit eine Entfremdung von der ursprünglichen natürlichen Ordnung. Alles, was die Menschen zustande gebracht hatten, seit sie aufrecht gehen konnten, war die Zerstörung der natürlichen Harmonie. Wenn man sich eine Schimpansenherde anschaute, war klar, dass sie sich selbst organisieren konnte. Die Weibchen waren zum Gebären und zur Aufzucht des Nachwuchses da und die Männchen sorgten für eine klare Hierarchie. Kein Emanzengezicke.

Alisons SMS von heute Morgen ärgerte ihn maßlos. Sie bat ihn, am Wochenende die Kinder zu übernehmen, da sie einen Probentermin mit ihrer Straßentheatergruppe in Brixton habe. Wozu das ganze Theater? Warum war sie nie zufrieden mit ihrer kleinen Familie? Warum dieser Drang zur sogenannten Kreativität? Das ganze Haus hing inzwischen voller Masken und Theaterrequisiten. Sie war doch glücklich mit den Kindern, was wollte sie noch? Neulich hatte sie ihm von ihrem Traum von einer Wohngemeinschaft erzählt. Du hast doch schon eine Wohngemeinschaft, mich und die Kinder. Warum bist du nicht zufrieden mit dem, was du hast, hatte er sie angefahren. Immer häufiger kam es vor, dass er seiner Frau gegenüber aus der Haut fuhr. Anfangs hatte ihn ihre unkonventionelle Art angezogen, aber inzwischen irritierte ihn ihre Unruhe maßlos. Da war eine Art Lebenshunger in ihr, den er scharf verurteilte. Sie tat so, als sei das Leben eine ständige Party. Aber da lag sie völlig daneben. Das Leben war ungerecht. Am besten fuhr man, wenn man Murphy’s Law auf Schritt und Tritt beachtete: Alles, was schief gehen kann, wird schief gehen. Mit dieser Einstellung war man auf die Tücken des Lebens bestens vorbereitet. Wie oft hatte er Alison nicht schon seinen Lieblingsspruch an den Kopf geworfen: „Life is a bowl of cherries. Beware of the stones!“ Er hatte ihn von seinem Vater übernommen, dem das Leben mehr Steine in den Weg gelegt hatte als süße Kirschen. Er war auch Gärtner gewesen. Aber gerade als er sich selbständig machen wollte, hatte das Leben grausam zugeschlagen. So lange John zurückdenken konnte, erinnerte er den Vater im Rollstuhl sitzend - zerbrochen wie sein Lebenstraum. Danach war die Armut in die Familie eingekehrt. John hatte schon als 8jähriger morgens vor der Schule Zeitungen ausgetragen. Und seit seinem 16.Lebenjahr kannte er nichts als Arbeit. Er war sehr stolz darauf, dass er in den zwanzig Jahren Vollzeitbeschäftigung kein einziges Mal krank geworden war. Das menschliche Leben war eine Zumutung, aber er, John Livesy, würde es eigenhändig bezwingen.

In der Mittagspause wanderte John wie immer zur anderen Seite des Sees und setzte sich unter seinen Lieblingsbaum. Er schaute hinauf in das feine Blattwerk des Ginkgo Biloba. Was für ein Trostspender. Dieser Baum war ein lebendes Fossil und stammte aus einer Zeit, lange bevor die Spezies Mensch sich an Gaya versündigt hatte. Was für ein Kleinod unter den Bäumen dieser Erde. Der Ginkgo gehörte weder zu den Nadel- noch zu den Laubbäumen und bildete eine eigene botanische Klasse. Und er war der lebende Beweis, dass die Erde überleben würde, auch nachdem die menschliche Spezies sich und ihren Lebensraum zugrunde gerichtet hatte. Immerhin stammte dieser Baum aus dem Jura, einer Periode der Erdgeschichte, da der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre um ein Siebenfaches über dem heutigen lag. John schmunzelte. Die Menschheit sollte sich ruhig selbst ausradieren. Er strich fast zärtlich über die glatte Rinde seines Freundes. Du wirst uns überleben, flüsterte er, und Gaya auch, und das ist gut so. Er pflückte eines der zweigeteilten Blätter und legte es in seine hohle Hand. Ein Ginkgo-Blatt verlor sein Mysterium nie. Kein Wunder, dass es seit Jahrtausenden von großer Bedeutung für Kunst, Kultur und Heilkunde war. In China waren Exemplare dieser Spezies mit einem Alter von 2000 Jahren keine Seltenheit. In Japan wurden die geschälten Ginkgosamen beim Hochzeitsmal als Glückssymbol verzehrt. Und bei der Atombombenexplosion in Hiroshima ging der Tempel-Ginkgo in Flammen auf, trieb aber im selben Jahr wieder aus und lebte weiter. Ja, du trotzt der Zerstörungswut der Menschheit, murmelte John und strich sanft über das kleine Blatt in seiner Hand.

Auf dem Weg zurück zum verhassten Rhododendrongestrüpp sammelte er fluchend den menschlichen Abfall ein. Der Geruch von altem Fett, der von der Frittenbude herüber wehte, bereitete ihm eine leichte Übelkeit. Vielleicht rührte diese auch von der Wut in seinem Bauch über die Dummheit der Menschen. Nein, wenn er ehrlich war – Er zog die Bäume den Menschen vor. Er hatte auch nie vorgehabt, eine Familie zu gründen. Er sah keine Zukunft für seine Spezies. Alison hatte ihn in gewisser Hinsicht überrumpelt. Ihr enthusiastischer Glaube an das Leben; ihre Begeisterung für die Wunder der Natur; die Spuren ihrer Hippievergangenheit in der Art sich zu kleiden – all das hatte ihn vorübergehend in einen Rausch versetzt. Dabei hatte er sich schon damit abgefunden gehabt, als Dinosaurier auszusterben. Dann kamen die Kinder und sein zurückgezogenes Leben wurde gnadenlos auf den Kopf gestellt. Was er vormals liebte an Alison, ging ihm inzwischen auf die Nerven. Am Wochenende wollte er seine Ruhe haben. Stattdessen drängte sie ihn dazu, gemeinsam Besorgungen zu machen. Ständig brauchten die Kinder was, neue Schuhe, Kleider, Schulsachen, von größeren Anschaffungen ganz zu schweigen. Wie er diese Shopping Centres voller konsumgeiler Menschen hasste. Alison aber bekam leuchtende Augen in diesem Gewühl und regte sich über seine schlechte Laune auf. Und wenn dann mal ein Wochenende frei war, lud seine Frau fremde Familien ein. My Home is my Castle - war sein Motto. Stattdessen klappte sie ständig eigenmächtig seine Zugbrücke runter und mutete ihm Fremde mit ihren Kindern zu. Warum brauchte sie das? War er ihr nicht gut genug? Sie warf ihm vor, sich wie ein einsamer Wolf in seine Höhle zurück zu ziehen und so zu tun, als brauche er niemanden. Ja und? Was gingen ihn andere Leute an. Ein Mann stellt sich den Zumutungen des Lebens eigenhändig. Eine Frau möge ihm bitte nicht dazwischen funken. Ihre Aufgabe ist es, sich um die Kinder zu kümmern.

John hackte verbissen weiter. Eigentlich liebte er die Arbeit in freier Natur. Seit ein paar Jahren kamen solche Außeneinsätze nur noch selten vor. Sein Beruf hatte sich grundsätzlich gewandelt, seit die Gemeinde dazu übergegangen war, die Landschaftspflege an private Gärtnereien zu delegieren. Im Wesentlichen bestand seine Arbeit inzwischen darin, am PC zu sitzen, Preisangebote verschiedener Gartenbaubetriebe zu vergleichen und den günstigsten Kostenvoranschlag zu wählen. Die Gemeinde war verschuldet. John hasste seine Degradierung zu einem Rädchen im Getriebe einer riesigen Geldmaschine. Unerträglich, jetzt wurde sogar die Natur zum Haushaltsposten. Blindwütig hackte er weiter auf eine besonders kräftige Wurzel ein, als ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. Ungläubig starrte er auf seinen Fuß. Die Hacke war abgerutscht und auf seinem Zeh gelandet. Der Schmerz zwang ihn, sich auf den Boden zu setzen und Schuh und Strumpf auszuziehen. Dunkles Blut quoll aus einer klaffenden Wunde unterhalb des kleinen Zehs. Er legte sich auf den Rücken und streckte das rechte Bein in die Höhe. Blut tropfte auf sein Hemd. Es half alles nichts, er brauchte Hilfe. Im Büro wollte er nicht anrufen. Er würde vor Scham vergehen, dass einem erfahrenen Gärtner so ein Missgeschick passieren konnte. Er wählte Alisons Nummer. Sie ging sofort dran. „Ich brauche deine Hilfe“, druckste er kläglich. „Ich komme“, sagte sie einfach.

Eine halbe Stunde später sitzt John neben seiner Frau im Auto. Der Weg zum Krankenhaus führt durch den alten Park von Virginia Water. Er sieht hinaus und nimmt plötzlich etwas wahr, das ihm bisher entgangen ist. Wie geheimnisvoll die Bäume sind. Es ist nicht nur ein Baum neben dem anderen, es sind alle Bäume zusammen, die sich gegenseitig helfen und unterstützen und zu einem Geschöpf verweben. Verstohlen schaut John Alison von der Seite an. Wie ruhig sie den Wagen lenkt. Wie sanft sie ihm eben den Fuß verbunden hat. Wie schön sie ist.

Sylvia Schöningh-Taylor



Letzte Aktualisierung: 14.03.2014 - 20.16 Uhr
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