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Schmelzpunkt(e) | Mrz 2014

Der Geist der Aufklärung
von Thomas Wüstemann

Johann war zu spät an diesem Abend. Das war ungewöhnlich bei einem so verlässlichen Menschen. Und auch bedauerlich, da er das Gespräch zwischen den alten Wissenschaftlern meist erst wirklich in Fahrt brachte, indem er losplapperte, sobald er zur Tür herein war.

Einiges war heute anders. Nicht nur Johanns Verspätung sprach davon, auch die Tatsache, dass ein Blubbern und Köcheln im Raum war, ausgehend von zahlreichen kleinen Glaskolben, die Leopold auf einem die ganze rückwärtige Wand einnehmenden Tisch über ebenso zahlreiche Gasbrenner gespannt hatte. Und obwohl Leopold als Gastgeber sogar vergaß, seinen Gästen, die ja aus der Kälte kamen, einen heißen Tee anzubieten, war das Gespräch bereits nach ein paar Minuten in vollem Gange und niemand vermisste Johann.

“Leopold”, rief Friedrich aus, “Sie wissen doch wohl von unserer stillschweigenden Verabredung, dass die Samstagabende für das wissenschaftliche Gespräch, nicht aber für das Experiment da sind? Was also, frage ich, haben Sie da am Kochen?”

“Mein lieber Friedrich. Ich entschuldige mich für diesen Regelbruch. Nennen wir es eine Anpassung der Regel. Nur ist es doch so, dass die Wissenschaft rapide voranschreitet im Zeitalter der Aufklärung. Um das Wesen der Natur - ich meine: der Chemie - zu verstehen, ist es mehr und mehr notwendig, selbige stets im Auge zu behalten. Die Zeiten sind vorbei, da wir ein paar Stündchen auf einen Kolben starrten, um uns dann zur Familie zu begeben. Aufopferung, mein lieber Friedrich, pure Aufopferung in diesen schnelllebigen Zeiten.”

Friedrich, Biologe von Rang und Namen, erhob Einspruch gegen diese Worte. Nicht gegen Leopolds These der Aufopferung allerdings: “Das Wesen der Natur”, sagte er, “ist zweifellos die Biologie, nicht die Chemie. Die Wissenschaft des Lebendigen.”

“Ich rieche ...”, warf Jakob, der einzige Nicht-Wissenschaftler der Runde, ein, “ich rieche Alkohol. Wollen Sie uns nun doch verköstigen?"

“Ha”, lachte Leopold, nicht wirklich erheitert. “Dass Sie als Künstler im Alkohol etwas anderes sehen als ein Destillat, war zu erwarten. Übrigens - nehmen Sie gern ein Glas Tee, Jakob. Auf dem Ofen finden Sie eine Kanne. Wo war ich? Ah. Bedenken Sie: Diese unsere Runde ist, dem ehrwürdigen Ort der Universität Heidelberg angemessen, dem Erkenntnisgewinn gewidmet, nicht der Zerstörung von Gehirnzellen. Und wie wollen Sie, Friedrich, den Kern der Stoffe verstehen, indem Sie sie nur betrachten?”

“Nun dann, Leopold: Was köcheln Sie?”

Leopold, der bereits an den Tisch getreten war und stolz vor seinem Experiment stand, öffnete das Ventil an einem der Kolben. Ein Schwall heißen Dampfes stieß daraus hervor.

“Sehen Sie, in diesen Kolben hier, die Ihre Aufmerksamkeit erregt haben, ist reines Wasser. Es verdampft bei 100 Grad. Wenn ich nun hier, einen Schritt weiter, das Ventil öffne, werden Sie feststellen ... - ja, Jakob, kommen Sie ruhig näher heran - ... werden Sie also feststellen, dass die Hitze deutlich geringer ist, und dennoch sehen Sie den Dampf, der herausströmt. Halten Sie nicht so den Kopf darüber, sonst sind die Gehirnzellen doch noch dahin. In diesen Kolben ist Ethanol, oder wie Sie, Jakob, es nennen: Alkohol.”

“Eine Frechheit, ihn verdampfen zu lassen”, sagte Jakob, nahm einen Schluck von seinem Tee, und wünschte sich, es wäre Sherry.

“Nun sehen Sie hier noch einen dritten Aufbau, der nicht erhitzt wird. Das, liebe Kollegen, lieber Jakob, ist das Faszinierende der Chemie. Durch eine Verbindung verschiedener Stoffe - das sehen Sie an dem Dampf, der auch aus diesem Gefäß strömt - wird ein Siedeprozess in Gang gesetzt, ohne dass Feuer im Spiel ist.”

“Hybris”, sagte Jakob, der Künstler. “Die Entdeckung des Feuers war die zweitgrößte Errungenschaft unserer Vorfahren. Die größte die Entwicklung der Sprache und der Poesie. Und nun kommen Sie daher, verkochen alles, was uns wichtig ist - das Wasser, das wir zum Leben brauchen, den Alkohol, den wir zum Träumen brauchen - und behaupten, es geschehe im Namen der Wissenschaft.”

Leopold war entrüstet. “Jakob, der Fortschritt, den wir durch das Wissen erlangen, ist unaufhaltsam. Alte Ansichten und Theorien verlieren an Bedeutung.”

“Aber doch nicht das Feuer!”

“Auch das. Feuer ist behäbig. Ich erhitze einen Kolben, und die Temperatur dringt erst durch das Glas, dann in die Flüssigkeit. Schauen Sie zum Beispiel auf diesen Aufbau mit Alkohol. Ich muss beständig messen, ob die Siedetemperatur anliegt. Von der Hitze des Feuers allein kann ich das nicht ableiten.”

“Aber Sie sehen, wenn es kocht”, sagte Jakob. “Menschenverstand, Leopold, bringt meist auch Erkenntnis.”

“Weit gefehlt. Flüssigkeiten können weit über ihren Siedepunkt erhitzt werden, ohne dass sie kochen. Daher gibt es Siedesteine, die den Vorgang kontrollieren und beeinflussen. Und, sehen Sie, in der chemischen Verbindung braucht es das nicht.”

“Siedesteine”, murmelte Jakob und nahm eine der kleinen Perlen auf. “Sie können auch das Sieden verstärken?”

“Genau. Legen Sie sie lieber zurück. Wer weiß, was passiert, wenn sie dem Ethanol zu nahe kommen.”

“Vielleicht wäre es nicht so schlecht, wenn wir ein wenig von dem Alkohol entließen. So ist er ja verschwendet.”

Erstmals mischte sich Theodor, Mathematiker und Philosoph, in den Dialog ein: “Aber Jakob, Sie erhitzen sich zu sehr. Sehen Sie, der Alkohol ist ja nicht verschwunden. Der Dampf wird sauber aufgefangen. Und so wird auch die Entdeckung des Feuers nicht überflüssig, nur weil Leopold seinen Kolben - also den Inhalt - ganz ohne Feuer verdampfen lässt. Der Mensch braucht immer noch Wärme.”

“Ganz recht. Und wo wir dabei sind: Werfen Sie doch ein paar Scheite in den Ofen, Theodor. Es wird merklich kälter draußen.”

“Gern. Machen Sie doch mal Platz da, Jakob. Jakob? Was tun Sie da?”

“Jakob, die Siedesteine sind gefährlich. Lassen Sie bloß die Finger vom Ethanol! Es kann leicht zu explosionsartigem Sieden komm- Oh, nein!”

“Ha! Jetzt ist es passiert.”

***

Die kleine Explosion - das Explosiönchen - hatte wohl Leopolds Experiment zu einem unrühmlichen Ende gebracht, gab aber sonst keinerlei Anlass zur Sorge. Der Dampf aus den Kolben legte sich in der Hitze unter die Zimmerdecke und hing bis zu den Nasenspitzen der versammelten Wissenschaftler herunter, was es allen ganz angenehm machte, wenn sie auf die kalte Landschaft vor dem Fenster blickten.

“Was ich sang wollte ...”, begann Jakob nach einer längeren Gesprächspause. “Ham Sie nich’ manchmal das Gefühl, Leopold, dass Sie ein bisschen mehr die Natur geniesssn könnten, statt sie ssu beobachten? Schau’n Sie, ich bin Künsssler. Und ich sing’ ein Hohelied auf das Leben, ohne sssu wissen, wie’s verdammft.”

Alle dachten kurz schweigend nach. Dann sagte Friedrich: “Was wär’ ein Künsssler wie Sie wohl ohne uns? Sie würd’n noch immer Bildchen von der Juungfrau Maria mal’n oder Verse ssu chrisslichen Liedern schreim, ...” Er fuchtelte mit dem Finger vor dem Gesicht von Jakob herum, wohl als Mahnung, ernst genommen zu werden. “... wenn wir nich’ gewesen wärn.”

Nun war es an Leopold zu fuchteln. “Koolleege Friedrich! Was ham die Biologen je für die Aufklärung getaan? Den liieben lang’ Tag schaun’se durch ihre Mikroskoobe. Stimms nich’? Und dann denken’se sich ihr’n Teil. Aber in Wirklichkeit sehn’se alles nur größer, nich’ besser.”

“Und Siie? Siie lass’n nur Wasser verdammfn ...“

“Und Allohol”, ergänzte Jakob.

“Und Alkoohl - und mein, nu wär’n se dem Geheimnis des Lems auf der Spuur. Aber nix. Weiit gefehlt, Koolleege. Nichma’ Gold aus Blei könn’se machen.”

“Gemaach, Gemaach”, mischte sich Theodor ein, während er die Nase ein wenig weiter zur Decke hob und tief einatmete. “Wähln se bloß nich’ zwischen Kunss und Wissenschaff. Sons’ kommt am Ende der Theolooge und sacht: Seh’n se, alles Teufelswerk. Nur Streit. Und Sswietracht.”

“Die Priesser wissen wen’gstens zu sauffn!”

***

Als Johann sich auf den Weg zu Leopold machte, war er bereits eine Stunde zu spät. Es hatte eine kleine Nachmittagsgesellschaft gegeben, die die Freunde seiner Frau zusammengebracht hatte - niemanden, den er wirklich kannte. Oder mochte.

“Gott”, sagte er zu sich selbst, denn er konnte auch wenn er allein war das Geplapper nicht einstellen, “bin ich froh, diesem Unsinn entkommen zu sein und nun in Leopolds Zirkel aus Wissenschaftlern - nun ja, und einem Künstler - Ruhe für den Geist zu finden. Was für eine Erlösung es sein wird”, beschwor er sich wieder, “die Nüchternheit der Kollegen zu erleben, gegenüber dem gesellschaftlichen Theater meiner Frau. Der wahre Geist der Aufklärung: Nur das Wissen.”

***

Als die Tür aufgestoßen wurde, drang die kalte Winterluft in die Stube und ließ die Partikel gefrieren, die sich im Raum ausgebreitet hatten. Ein leichter Regen aus Wasser und Alkohol ging auf die drei Wissenschaftler und Jakob, den Künstler, nieder, die da in Umarmung auf dem Boden saßen und singend Gedichte rezitierten.

Johann, der die Tür aufgestoßen hatte und nun diesem Bild ausgesetzt war, fasste seinen Spazierstock fester, weil er das Gefühl hatte, vielleicht Verteidigung zu brauchen.

“Was, in Gottes Namen ...”

“Gottes Naame? Nein, liieber Joohann, Religion hat nix damit ssu tuun. Wir sin’ die Essenss der Aufklärung!”

V2

Letzte Aktualisierung: 16.03.2014 - 11.52 Uhr
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