Philipp zuckte zusammen, als ihn jemand an der Jacke zupfte.
„Hallo, wie geht's denn so?“
Er hatte das kleine Mädchen, das ihm gerade mal bis zur Hüfte ging, weder kommen hören, noch konnte er sich erklären, was sie hier tat oder und warum sie um diese Uhrzeit nicht längst im Bett lag. Obwohl, wenn er genau darüber nachdachte, war es ihm letztendlich doch auch wieder egal. Vielleicht würde er irgendwann einmal Kinder haben und ja, dann müsste er Verantwortung übernehmen. Dass die Kleine hier an einem Dienstagabend nach 22 Uhr auf einer Autobahnbrücke stand, fiel wohl er in die Zuständigkeit ihrer Eltern oder des Jugendamtes als in seine. Daher lehnte er sich wieder mit den Ellbogen auf das Geländer, zog an seiner Zigarette und blies den Rauch einem Wagen entgegen, der mit Fernlicht und - wie Philipp fand - stark überhöhter Geschwindigkeit unter der Brücke herschoss.
„Ganz okay, und selbst?“, sagte er nach einer Weile.
„Geht so.“
„Aha, okay“, antwortete Philipp und starrte wieder auf die Fahrbahn unter ihnen, die jetzt beinahe vollkommen in Schwärze lag. Von weiter weg konnte er das sonore Brummen eines LKW wahrnehmen. Die Tonlage würde sich ändern, wenn der Brummi den Hügel überwunden hätte, heller werden, genauso wie bei den anderen Dutzend Gespannen, die in der letzten halben Stunde hier entlanggefahren waren.
„Wie alt bist du? Müsstest du nicht eigentlich längst im Bett sein?“, fragte er und dachte gleichzeitig daran, dass er wie seine eigene Mutter klang.
„Nee, muss ich nicht ... weil ich nämlich tot bin.“
„Aha, tot, okay“, sagte Philipp vor sich hin und holte sein Handy hervor, dessen Vibrieren und Blinken eine Textnachricht anzeigte: Denk dran, wir brauchen ein Foto als Beweis, oder du bist nicht dabei.
Er drückte die Nachricht weg und wiederholte noch einmal: „Tot, okay.“
„Pieks mich mit dem Finger!“
„Warum sollte ich das tun?“, fragte er und steckte das Handy ein.
„Damit du verstehst, dass ich tot bin.“
„Das ist doch vollkommener Quatsch, wenn du tot wärst, wärst du nicht hier, sondern ... na, irgendwo auf einem Friedhof, wo Tote halt hingehören.“
„Du traust dich ja bloß nicht.“
„Geh nach Hause“, gab Philipp zurück und schob seinen Rucksack mit dem Fuß etwas weiter Richtung Geländer.
Der LKW hatte jetzt den Hügel hinter sich gelassen und hielt auf die Brücke zu.
„Ich weiß, was du in deinem Rucksack hast.“
„Halt den Mund und geh mir nicht auf die Nerven.“
Philipp hatte das Gefühl, die komplette Brücke vibrierte, als sich der Lastzug darunter herschob.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“
„Pieks mich, sonst schreie ich ganz laut!“
Philipp schüttelte den Kopf. „Hier hört dich eh keiner, hier ...“ Er brach ab, als ihm bewusst wurde, in welcher Gefahr sich das Mädchen befand. Was, wenn sie nicht ihm, Philipp, sondern irgendeinem Psycho begegnet wäre? Vielleicht sollte er sie einfach nach Hause bringen, obwohl, wenn er jetzt ging, dann wäre er definitiv draußen, würde keine neue Chance mehr bekommen. Oder ... er würde das Mädchen kurz wegschicken, den Aufnahmeritus hinter sich bringen und es anschließend... Nein, das schied definitiv aus.
„Okay, ich pieks dich. Schön“, sagte er, aber sein Finger glitt durch ihren Arm. Philipp sprang ein Stück zurück. „Heilige Scheiße, was ist das?“
„Ich hab dir doch gesagt, dass ich tot bin.“
„Aber“, Philipp fuhr sich durch die Haare, „das ist doch total strange!“
„Ich hab in einem Auto gesessen, in meinem Kindersitz. Jemand hat einen Stein von einer Brücke heruntergeworfen und mich getötet.“
Philipp wurde schwindelig. Er griff nach dem Geländer. Das kalte Metall beruhigte seinen Kreislauf ein wenig.
„Das kann nicht sein, ich ...“
„Es ist nicht schön, tot zu sein. Es hat wehgetan. Und jetzt ist es langweilig.“
Sein Handy vibrierte ein weiteres Mal.
„Er schreibt dir wieder, oder, dieser Junge?“, fragte das Mädchen, „Und wenn du es nicht tust, nimmt er dich nicht in seine Clique auf.“
Philipp biss an seiner Lippe und nickte.
„Aber du willst es unbedingt ...“
Philipp nickte erneut.
„Weil du Kumpels brauchst. Und weil du sonst nie an die Blonde mit dem Pferdeschwanz aus der Clique rankommst, in die du verliebt bist.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Meinst du, es würde ihr gefallen, einen Freund zu haben, der kleine Mädchen umbringt?“
„Das ist doch total bescheuert“, platzte es aus Philipp heraus, „es gibt dich nicht, ich bilde mir das nur ein, weil ich total unter Strom stehe wegen der ganzen Sache und ob ich da aufgenommen werde.“
Er merkte, wie sich die Kleine an sein Bein klammerte, was ihm irgendwie unlogisch vorkam, da sein Finger ja vor wenigen Augenblicken durch ihren Arm geglitten waren, sie also keinen stofflichen Körper besitzen konnte.
„Wenn du das tust, dann kommt alles ganz furchtbar durcheinander!“
„Lass mich!“, versuchte Philipp, sie abzuschütteln. „Du bist nicht echt!“
Sein Handy vibrierte ein weiteres Mal. Er brauchte nicht hinzuschauen, da er wusste, dass auch diese Nachricht von Stefan kam, der auf das Foto wartete. Philipp griff nach seinem Rucksack und holte den Stein - einen grauen Pflasterkopf - heraus, dessen Ecken sich weich und rundgeschliffen anfühlten. Er blickte auf die Fahrbahn. Ein einzelner Wagen näherte sich in mäßiger Geschwindigkeit, dahinter nichts als Schwärze. Wenn er nicht mittig warf, sondern eher seitlich, würde sicher nicht die ganze Scheibe wegplatzen, der Wagen trotzdem ins Schlingern kommen und am Randstreifen liegenbleiben, dass er das Foto machen konnte. Das Mädchen umklammerte seine Beine jetzt vollständig: „ ... alles ganz furchtbar durcheinander!“
Philipp verdrängte das aufziehende Bild eines komplett ineinandergefalteten Wagens, noch einmal und noch einmal, bis er ein Auto mit eingeschaltetem Warnblinklicht vor seinem geistigen Auge - wie dumm dieses Wort klang - sah, das eine fußballgroße Stelle gesplitterten Glases auf der rechten Seite der Frontscheibe aufwies. Wenn er es sich vorstellen konnte, musste es auch möglich sein, ohne jemanden zu verletzen. Sicher ein gewisses Restrisiko blieb, aber schließlich musste auch er einmal die Chance bekommen, akzeptiert zu werden. Und wenn ein Steinwurf von einer Fußgängerbrücke der Preis dafür war, dann galt es eben abzuwägen.
Der Stein fühlte sich viel wärmer an als das Brückengeländer. Vielleicht hatte Philipp auch grade diesen Stein ausgewählt, weil er instinktiv ahnte, dass dies ein weicher Stein, ein Softie, ein Pazifist unter den anderen Steinen war und sicher nicht viel Unheil anrichten würde.
Der PKW kam langsam in Reichweite. Philipp spürte wie sich das Mädchen fester an ihn klammerte und noch einmal Nicht flüsterte, als Philipp ausholte.
Etwas traf ihn mit einer unglaublichen Wucht und warf ihn zu Boden. Jemand riss ihm die Arme hinter den Rücken und fixierte sie - so wie es sich anfühlte - mit einem Stück Plastik, das in die Haut an seinen Handgelenken schnitt. Eine weitere Hand drückte seinen Kopf auf den Boden, „Das würde ich ja mal echt auf frischer Tat ertappt nennen, du verdammter Scheißkerl. Hast du gesehen, Wolfgang, diesmal wollte er einen Pflasterstein benutzen.“
„Aber ich hab doch überhaupt nicht ... und noch nie vorher ...“
„Das kannst du gerne mit deinem Anwalt diskutieren, Freundchen, oder beim Duschen in der JVA, da sind Typen wie du nämlich extrem beliebt.“
Philipp drehte sich auf die andere Seite. Er würde kein Auge auf dieser Pritsche zumachen können. „Ich hab dich gewarnt“, hörte er eine Stimme neben sich. Das kleine Mädchen!
Philipp fuhr herum. „Was geht hier ab?“, presste er mit unterdrückter Lautstärke heraus. Wer wusste schon, wer hier mithörte.
Das Mädchen streckte ihm beide Handflächen entgegen. Philipp konnte nicht anders als diese zu berühren.
Im nächsten Moment befand er sich in einem anderen Körper, an einem Frühstückstisch. Vor ihm die aufgeschlagene Tageszeitung mit dem Datum von morgen und der Meldung Steinwerfer gefasst.
„Was ist los, Carsten?“, fragte die ältere Frau, die dem Anderen gegenübersaß. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
„Nein, nein, es ist alles in Ordnung, Mutter, es ist nur ... ich bin heute morgen irgendwie ... emotional“, hörte Philipp den Anderen sagen.
„Ich glaube, du solltest dich einmal richtig ausruhen.“
„Vielleicht hast du Recht“ Philipp spürte wie der Andere aufstand. „Trotzdem habe ich gerade seit langem zum ersten Mal wieder das Gefühl, richtig frei zu sein.“
„Es hat mit deiner Arbeit zu tun, nicht wahr, Carsten? Ich hab doch mitbekommen, dass du dich nachts rausgeschlichen hast.“
„Ja, Mutter, aber das ist jetzt vorbei, ich habe die Chance, noch einmal neu anzufangen.“
Die ältere Frau klatschte - scheinbar vor Verzückung - in die Hände. „Das ist wunderbar, Carsten, mit 52 ist der Zug noch nicht abgefahren und vielleicht lernst du dann auch mal ein nettes Mädchen kennen.“ Philipp registrierte, wie sich der Körper des Anderen versteifte und ein undeutliches Ich muss noch etwas aus der Garage holen aus dessen Mund kam.
Am Zaun zum Nachbargarten sah Philipp das kleine Mädchen durch die Augen des Anderen.
„Ich weiß, was du getan hast“, rief es dem Anderen zu.
„Wer bist du? Ich hab dich hier noch nie gesehen“, gab der zurück.
„Du hast mich umgebracht, weißt du das nicht mehr? Mich, und die, in den anderen Autos.“
Philipp trat gegen die Zellentür. „Ich war es nicht, aber ich weiß, wer die Steine geworfen hat. Er wohnt in einem Haus, in einem Haus mit Garten und einem Jägerzaun, er heißt Carsten und er ist 52 Jahre alt. Seine Mutter ...“ Er verstummte, als ihm bewusst wurde, wie verrückt sein Herumbrüllen auf die Vollzugsbeamten wirken musste.
„Ich hab doch gesagt, alles kommt durcheinander“, sagte das Mädchen und klammerte sich noch einmal an Philipps Bein, bevor es verschwand.
Version 2
Letzte Aktualisierung: 27.04.2014 - 19.31 Uhr Dieser Text enthält 10021 Zeichen.