Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Steinzeit | April 2014
Der blaue Stein - ein modernes MĂ€rchen
von Monika Heil

Als er den Stein entdeckte, wusste er, dies war ein ganz besonderer Fund. In deprimierter Stimmung hatte er das Dorf hinter sich gelassen und schlenderte Richtung Wald. FĂŒr die gelben Rapsfelder und das satte GrĂŒn der Wiesen hatte er keinen Blick. Die Schönheit der Landschaft, die wĂŒrzige FrĂŒhlingsluft, das Zwitschern der Vögel, nichts erreichte seine Sinne. Die Augen auf den staubigen, schmalen Pfad gerichtet, ging er in Gedanken versunken dahin.

Vor einer Stunde hatten sie seine Großmutter beerdigt. Fast hundert Jahre alt war sie geworden und fast so alt war die kleine Kate, in der sie gelebt hatte. Sie hatte ihm nichts hinterlassen, als die Erinnerung an eine wunderbare Kindheit, die er hier verbracht hatte. Das war lange her. Doch diese Zeit hatte bei ihm wichtige Spuren hinterlassen und sein Wesen geprĂ€gt. Großmutters MĂ€rchen- und Sagenwelt hielt sich unauslöschbar in seinem GedĂ€chtnis. Als er in die Großstadt zog, auf eigenen FĂŒĂŸen stehen wollte, war aus ihm ein vertrĂ€umter, stiller EinzelgĂ€nger geworden.
„Er spinnt“, flĂŒsterten die Nachbarn ein wenig spöttisch. Freunde hatte er keine. Wenige Bekannte und das einzige MĂ€dchen, in das er sich bisher verliebt hatte, blieben ihm nicht dauerhaft erhalten. Die Jahre gingen dahin. Manchmal war er glĂŒcklich, manchmal war er es nicht. Die Unterschiede wurden ihm meist nicht bewusst.

Da lag nun plötzlich dieser blaue Stein. Keramik? Glas? Das BruchstĂŒck eines GefĂ€ĂŸes? Er dachte nicht darĂŒber nach, sondern bĂŒckte sich und rieb den Staub von dem Stein, der dadurch in einem wunderbaren Blau aufleuchtete. Rund und anschmiegsam lag er in seiner Hand. Er wusste es einfach, dies war ein besonderer Stein und Großmutters VermĂ€chtnis.
Als er sich aufrichtete, vernahm er das Tirilieren der Vögel, sah die Buntheit der Natur. Tief atmete er die frische FrĂŒhlingsluft ein. Langsam machte er sich auf den RĂŒckweg.

Ein paar Tage spĂ€ter war er wieder in der Stadt und ging, wie jeden Morgen, zur Arbeit. Er hatte sich in einer nicht erklĂ€rbaren Anwandlung von FrĂŒhlingsstimmung einen neuen Anzug gekauft. Die VerkĂ€uferin hatte ihm dazu eine farbenfrohe Krawatte ausgesucht. Heute trug er beides. Er betrat das BĂŒro, die alte Aktentasche in der einen, seinen GlĂŒcksstein in der anderen Hand.
Ein ungewohnt lautes und freundliches „Guten Morgen“ ließ die Kollegen erstaunt aufblicken. Die Damen lĂ€chelten.
„Chic“, murmelte eine.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und legte den Stein neben das Telefon. Niemand beachtete es.

Die Wochen vergingen. Im Lauf der Zeit begann langsam, fast unmerklich, die VerĂ€nderung. Dem neuen Anzug folgte ein modischer Aktenkoffer. Im Sommer machte er seinen FĂŒhrerschein und kaufte ein kleines sportliches Auto.
Zur ersten Ausfahrt lud er Annalena, eine junge Kollegin, ein. Sie sagte sofort zu. Er war nicht mehr der EinzelgĂ€nger, der TrĂ€umer. Er war ein moderner junger Mann mit Auto und einem blauen GlĂŒcksstein.

Sie fuhren durch den hellen Sommertag, genossen die Landschaft, unterhielten sich lebhaft. Aus einem Impuls heraus zeigte er ihr den Stein. Sie reagierte nicht, wie er erhofft hatte. Annalena hatte offensichtlich kein Interesse an solchen MĂ€rchen. EnttĂ€uscht steckte er ihn weg. Kurz darauf fuhren sie zurĂŒck. Er lud sie nie wieder zu einer Autofahrt ein.

Inzwischen war er befördert worden. Sein Schreibtisch stand nun allein in einem schönen modernen BĂŒro. Statt eines Fotos lag ein blauer Stein als Blickfang neben dem Telefon. Abends nahm er ihn mit nach Hause in seine neue, kleine Wohnung, die er sich geschmackvoll eingerichtet hatte.

Eines Abends saß er in seinem Lieblingssessel, hörte Musik und trĂ€umte vor sich hin, als es klingelte. Vor der TĂŒr stand Annalena. Kurz darauf saß sie ihm aufgeregt und schluchzend im Wohnzimmer gegenĂŒber und berichtete. Sie hatte Firmengelder zur Bank bringen sollen, die Tasche auf das Autodach gelegt und war gestartet. Als ihr die Geldtasche einfiel, war diese natĂŒrlich lĂ€ngst weg. Das war vor zwei Stunden gewesen. Inzwischen hatte sie den Weg mehrfach abgesucht, das Geld blieb verschwunden.

„Kommst du mit, das Geld noch einmal suchen und nimmst deinen blauen GlĂŒcksstein mit?“, rĂŒckte sie endlich mit der Sprache heraus. Er reagierte erst mit Unmut, dann traurig. Sie hatte nichts verstanden. Dennoch griff er nach seinem Mantel und begleitete sie - vergeblich. Das Geld war unauffindbar. Sie waren beide enttĂ€uscht, als sie auseinander gingen.
„Er ist doch ein Spinner, der mit seinem GlĂŒcksstein“, dachte Annalena.

Am nĂ€chsten Morgen war er der Erste im BĂŒro. Er ĂŒberflog gerade die Tageszeitung, als ein GerĂ€usch an der TĂŒr seine Aufmerksamkeit forderte. Dort stand ein junges MĂ€dchen, das ihn neugierig ansah.
„Endlich ein Mensch in diesen leeren Hallen“, lachte sie, trat nĂ€her und legte schwungvoll eine Geldtasche auf seinen Schreibtisch. Was sie berichtete, nahm er kaum auf. Er sah nur ihre strahlenden, blauen Augen, die seinem Blick offen standhielten.

Louise war Studentin und verdiente sich ein bißchen Geld mit Putzarbeiten. Nachdem sie gestern Abend die BĂŒrorĂ€ume gereinigt hatte, war sie eilig zur Haltestelle gelaufen, denn sie wollte unbedingt den letzten Bus erreichen. Da sah sie eine Geldtasche im Schmutz liegen. Sie wusste, dass um diese Uhrzeit niemand mehr in der Firma war. Also nahm sie ihren Fund mit nach Hause und nun war sie hier, um ihn abzuliefern. Dem Erstbesten, dem sie begegnete, legte sie die Tasche auf den Schreibtisch. Er bat sie zu warten. Schnell brachte er das Geld in das BĂŒro der Kollegin. VergnĂŒgt pfeifend, die HĂ€nde in den Hosentaschen, ging er zurĂŒck. Dabei berĂŒhrten seine Finger den Stein. Er dachte an die blauen Augen des MĂ€dchens und lĂ€chelte. Louise war noch da. Sie ging erst nach einer halben Stunde.

Am Sonntag fuhren sie gemeinsam aufs Land. Er brachte Louise in das Haus seiner Kindheit, erzĂ€hlte von seiner Großmutter, ihren MĂ€rchen und Sagen und am Ende auch von dem blauen Stein. Sie wollte ihn sehen.
„Ja, das ist ein magischer Stein“, nickte sie bestĂ€tigend und riet ihm: „Heb` ihn gut auf.“ Er sah lange in ihre Augen und lĂ€chelte.

Sie gingen im Dorf zu Mittag essen. Danach bat er Louise, in Großmutters kleiner Stube eine kurze Zeit auf ihn zu warten. Er habe etwas Wichtiges zu erledigen, erklĂ€rte er. „Allein.“ Sie stellte keine Fragen, nahm sich ein MĂ€rchenbuch und las. Er lief den schmalen Pfad entlang, der durch Felder und Wiesen zum Waldrand fĂŒhrte. Dort blieb er stehen und holte den blauen Stein hervor. Mit geschlossenen Augen warf ihn mit aller Kraft von sich weg, ohne zu beachten, wo er aufschlug. Vielleicht lag er in der Sonne blitzend und ein Wanderer hob ihn bald auf. Vielleicht hatte er sich in den weichen Sand gebohrt und wĂŒrde erst nach vielen Jahren gefunden, von jemanden, der, wie er, an die Kraft des Steines und sein Schicksal glaubte. Er brauchte diesen Stein nicht mehr.

Als er zurĂŒckkehrte, saß Louise noch immer an dem gleichen Platz, versunken in die Geschichte, die sie gerade las. Nun blickte sie auf, ihre blauen Augen blitzen und er wußte, Großmutters VermĂ€chtnis hatte sich erfĂŒllt.

Letzte Aktualisierung: 26.04.2014 - 09.51 Uhr
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