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Steinzeit | April 2014

Wehklage zum Steinerweichen
von Helga Rougui

Das Kind im Manne. Das Kind im Weib.
Sie toben, lachen sich kringelig, ringen sich nieder, büxen aus, spielen fangen und rollen sich im Sand. Sie sprudeln über vor Lust und Spaß an der Freud und Albernheit, wenn sie die ihnen zugeteilte Zeit leben. Dann haben die Erwachsenen vor sich ein wenig Ruhe, und ihre inneren Kinder vergnügen sich.

Das Kind im Kind?

Es hat nur eins: Angst. Und hat sonst nichts.
Nichts zu freuen und nichts zu verteidigen und keinen Platz in der Welt.

Es fühlt sich weich im Kern wie ein Pudding.
Gleichzeitig ist es bewegungslos wie ein Stein.
Ein Stein im Flußbett, über den der Strom vergifteter Worte fließt.
Es ist ein von Granit eingefaßter Puddingsee.

***

Das Leben ist ein Kampf, kein Ringelreih'n.
Die Ehefrau kämpft gegen den Ehemann, der auf seine Art zurückkämpft.
Die Flitzebögen werden unermüdlich neu gespannt. Die Spitzen und Angriffe schießen hinüber und herüber. Da ist keine Ruhe, kein Verständnis, kein mitfühlendes Verweilen, da ist nur unterdrückter oder offen ausgesprochener Vorwurf, und es folgt auf dem Fuße die Verteidigung des Gegners. Wie Gewehrsalven jagen sich Ermahnungen, Maßregeln, bohrende Nachfragen. Dieses Spiel wurde tausendmal gespielt – kein Kinderspiel, das durchzuhalten. Alles muß gesagt und getan werden nach bekanntem Muster, nichts darf ohne Begründung verrückt werden, sonst wird einer von beiden verrückt. Abweichungen müssen gerechtfertigt werden, sind jedesmal eine Ansprache wert, die immer überhört wird.
Ein bißchen Freiheit braucht der Mensch?
Wohl kaum.

***

Und das Kind lernt zu sein wie ein Stein.
Wer sich nicht bewegt, den kann kein Vor-Wurf treffen.
Wer sich nicht bewegt, der kann niemanden treffen. Auch nicht aus Versehen.

***

In den Staub gespuckt.
In dieser Familie ist das letzte nette Wort vor langer, langer Zeit gefallen, in einer fürchterlichen Schlacht.
Es fiel mit der Fresse in den Dreck und schlug sich beide Knie blutig und den Schädel ein. Es war tot, noch bevor es der Länge nach hinstürzte. Und das war es dann gewesen.
Profundes Mißtrauen, unterschwellige Ablehnung, unterdrückter Groll.
Das alles trat an die Stelle des letzten netten Worts.
Das alles zersetzte seine Ãœberreste bis zur Unkenntlichkeit.
Auf den rauchenden Misthaufen wurde hoch oben ein Stein gepackt, der nicht fühlte, nicht sah, nicht hörte, nicht redete.
Der vorgab, nicht zu fühlen, nicht zu sehen, nicht zu hören.
Der nicht redete.

***

Das Kind dort oben rührt sich nicht und jeden zu Tränen, der es erblickt.
Es hat noch immer Angst.
Aber es ist stumm im Inneren zu seinem Schutz und steinhart gefroren außen und fest entschlossen, zurückzuschlagen. Es wird sich ein Leben lang auf sich selbst zurückziehen, und der Ehemann und die Ehefrau werden vor keinem Gericht der Welt mehr als Zeugen für ihre Sache angenommen werden.
Dafür wird das Kind sorgen, wenn es dereinst die Macht übernommen haben wird.
Wenn der rechte Zeitpunkt gekommen sein wird.

***

Paula war als Baby ein wahrer Wonneproppen. Ihre Mutter liebte sie abgöttisch. Sie atmete, sie trank, sie schrie, sie kotzte, sie kackte. Perfekte Unschuld.

Die Mutter hatte ihrem Gatten das Kind abgetrotzt, oder vielmehr ihr Unterbewußtsein hatte das getan, das sich als Gebär-Tier fühlte und keine Lust mehr hatte, jeden Morgen ins Büro zu gehen. Heraus kam nach neun Monaten Paula, die, als sie einmal da war, vom Gatten einigermaßen bereitwillig akzeptiert wurde. Aber ein gewisses Ressentiment blieb, und zur Strafe drängte er seine Tochter, als sie alt genug war, in die Rolle der Rivalin und enthielt seiner Frau die ultimative Liebe vor, von der sie seit jeher als einer sie alleinseligmachenden geträumt hatte. Wo Leidenschaft hätte sein sollen, war Distanz, und im Alter wurde daraus Bosheit auf beiden Seiten.

Paula war der Kiesel, der sich bemühte, nicht pulverisiert zu werden zwischen den elterlichen Granitwänden, die in unerbittlichem Gleiten immer wieder aneinander vorbeikreischten. Um dem Druck standzuhalten, vergrößerte sie ihr Volumen von Jahr zu Jahr und ertrug so die Frustriertheit und Enttäuschung der Ehefrau und die stille Wut und den Rückzug des Ehemanns. Der Anwendung der Bezeichnungen "Vater" und "Mutter" versagte sie sich konsequent. Ihr widerstrebte es, Namen für Mahlsteine auszusprechen. Die meiste Zeit lag sie in ihrem Zimmer, bewegungslos, und, während sie die gedämpften Stimmen ihrer sich streitenden Eltern erlauschte, verdrückte sie Berge von gedämpften Teigtaschen.

So brauchte sie keine Steine, um damit die Taschen ihres Schlafanzugs zu füllen.

Nase voll, Schnauze voll, mit vollem Munde spricht man nicht.

***

Und so lernte das Kind im Kind nie, was Leben auch sein konnte. Aber es war in der Lage, schon mit acht Jahren ein perfektes Sechzehn-Gänge-Menü für eine zweiunddreißigköpfige Hochzeitsgesellschaft zu entwerfen.

Mit Weinbegleitung, versteht sich.

Letzte Aktualisierung: 19.04.2014 - 14.54 Uhr
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