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Steinzeit | April 2014

Rendez-vous mit der Steinzeit
von Eva Fischer

„Die Coladosen bleiben da und die Handys und die MP 3 Player auch!“
Die Schüler der 6c schauten ihren Lehrer wenig begeistert an.
Das C stand für Chaos, wusste Herr Altmeier, der trotz seines Namens recht jung war und noch genug Idealismus mitbrachte, um an C wie Charme zu glauben.
Kevin zeigte ihm auch prompt ein breites Grinsen. Sein Kaugummi wanderte geräuschvoll von einer Backenseite zur anderen.
„Das Kaugummi gibst du mal bitte in den Mülleimer!“, forderte HerrAltmeier ihn auf.
„Ey, was solln das?“, maulte Ayla. „Das wird ja voll langweilig! Da können wir ja gleich hierbleiben. “
„Nun warte doch erst mal ab! Wir fahren in einen Park, wo Menschen unter Bedingungen wie in der Steinzeit leben. Was glaubt ihr, was passiert, wenn die eure Coladosen, Handys und MP3 Player in die Hände kriegen?“
„Dann verschlucken die Mungos sie und krepieren, weil sie von Technik keinen blassen Schimmer haben.“
„Genau! Aber Mungos habe ich jetzt mal überhört.“
„Den Wissenschaftlern ist ein tolles Experiment gelungen, weil sie eine DNA aufgetaut haben und sie so original die Steinzeitmenschen und Tiere nachzüchten konnten“, ergänzte Arnim, das Geschichtsass, der wieder auf eine Eins im Zeugnis hoffte.
„So in etwa“, bestätigte sein Lehrer.
„Gibt es da Dinosaurier?“, wollte Kevin wissen.
„Du solltest in meinem Unterricht aufpassen, dann wüsstest du es.“
„Die Dinosaurier sind bereits vor 65 Millionen Jahren im Kreide-Tertiär ausgestorben“, belehrte Arnim seinen Mitschüler ungefragt und bekam prompt einen Stinkefinger gezeigt.
Herr Altmeier beschloss, diese Interaktion zu ignorieren, und gab Kevin die Arbeitsblätter zum Verteilen.
„Voll langweilig!“, kommentierte Ayla erneut, als sie das Blatt mit spitzen Fingern entgegennahm.

Die Bustür öffnete sich und die 6c stürmte hinein, als ob unter den Sitzen Hauptgewinne versteckt seien. Denis und Kevin stritten sich um den Platz neben Ayla.
„Ayla will es heute langweilig. Die setzt sich mal allein hinter mich, damit sie auf der Fahrt das Arbeitsblatt studieren kann!“, verfügte Herr Altmeier.
„Nee, das könnense nich machen!“, protestierte diese.
„Siehste doch. Ich kann.“
„Dann soll wenigstens die Vanessa neben mir sitzen“, verlangte sie.
Herr Altmeier signalisierte mit einem resignierten Augenaufschlag Zustimmung, bevor sich die Türen schlossen und der Bus sich in Bewegung setzte.

Der Zaun war mannshoch und trennte Betrachter und Betrachtete, wobei es erst mal nicht viel zu betrachten gab außer sattgrünen Wiesen.
„Sind die Steinzeitmenschen tagaktiv?“, wollte Arnim wissen.
„Wir sind doch hier nicht im Zoo, wo sich die Fledermäuse nachts auf die Pirsch machen“, entrüstete sich Herr Altmeier.
„Was ist, wenn die Steinis keinen Bock auf Mammuts haben? Wo bleibt dann die Action?“, fragte Kevin.
„Nun lasst euch einfach überraschen! Ihr bleibt bitte in euren Gruppen. Beachtet bei der Bearbeitung eurer Arbeitsblätter die Informationen auf den Schildern. Nach zwei Stunden treffen wir uns wieder hier. Wenn es Probleme gibt, ihr findet mich im Café dort drüben. Dann also viel Spaß und Erfolg!“
Herr Altmeier betrachtete das Gespräch als beendet und wartete, bis die Klasse 6c lostrabte.
Er zog seine Zeitung heraus und bestellte eine Tasse Kaffee. Ausflüge im Geschichtsunterricht waren doch immer wieder eine nette Abwechslung für Schüler und Lehrer, fand er.

„Komm, mach mal ne Räuberleiter!“, forderte Ayla Kevin auf.
„Du willst da echt rüberklettern?“
„Na klar. Kommen die Steinzeitmenschen nicht zu mir, dann komme ich zu ihnen.“
„Meinst du nicht, das ist zu gefährlich?“
„No risk, no fun.“
„Wusste gar nicht, dass du im Englischunterricht aufpasst.“
„Tue ich auch nicht. Das hat mir mein Bruder verklickert. Also was ist? Kommste mit?“
„Klaro!“

Kevins Finger verhakten sich zu einer begehbaren Fläche. Ayla packte ihren Freund an den Schultern und kletterte auf seine Hände. Dann schwang sie sich über den Zaun und landete leichtfüßig auf der anderen Seite.
„Scheiße! Da kommt jemand“, rief Kevin.
Ayla rannte wie ein Wiesel, bis ein Gebüsch sie außer Sichtweite brachte. Dort kauerte sie sich auf den Boden und beobachtete den verdutzten Kevin aus der Ferne.
Aus den Tiefen ihres Rucksacks fischte sie ihr Smartphone. Davon musste sie unbedingt ein Foto machen.
Sie wollte gerade auf den Knopf drücken, als auf dem Screen ein ihr unbekanntes Wesen erschien.
„Mann, wo kommst du denn so plötzlich her? Gibt es noch mehr von deiner Sorte? Ich dachte, ihr seid immer in Clans unterwegs?“, rief sie und rutschte unwillkürlich nach hinten.
Das Wesen war nicht größer als Ayla mit ihren 160 Zentimetern. Seine muskulösen Arme baumelten untätig an der Seite. Es stand auf kurzen Beinen mit strammen Waden und trug einen Lendenschurz.
Aha, männlich, dachte Ayla, der das Körperteil unter dem Lendenschurz nicht entgangen war.
Wäre ja doch geil, von dem ein Foto zu machen, ging es ihr durch den Kopf. Die Facebookfreunde würden vor Neid platzen. Ein Sicherheitsabstand wäre allerdings nicht schlecht, doch der Steinzeitmensch kam geradewegs auf sie zu. Ayla sprang auf und bewegte sich in dem Maß rückwärts wie ihr neuer Freund vorwärts.
„Was willst du eigentlich von mir?“, schrie sie plötzlich hysterisch auf.
Er schien sie nicht zu verstehen, denn er fixierte sie schweigend mit seinen tief liegenden Augen, bevor er wie eine Katze auf sie zuschnellte. Sie roch seinen Körper. Ganz offensichtlich war ihm Achselspray fremd. Gleich würde er sie vergewaltigen oder umbringen oder beides. Seine haarige Hand legte sich auf ihre. Ayla erstarrte. Der Anblick dieses Monsters war nicht zu ertragen. Sie schloss die Augen in der irrationalen Hoffnung, es möge sich in Luft auflösen.
Da spürte sie, wie er ihre Hand öffnete und ihr das Smartphone entwendete.
Vorsichtig betastete er es und betrachtete es von allen Seiten. Während er mit dem neuen Spielzeug beschäftigt war, nutzte sie die Gunst des Augenblicks und rannte zurück Richtung Zaun.

Kevin stand noch immer wie angetackert da, wo sie ihn zurückgelassen hatte, aber wie sollte sie wieder auf die andere Seite kommen?
„Wir müssen hier weg. Da ist so ein Irrer hinter mir her!“, keuchte Ayla außer Atem.
Kevin schaute sich um, konnte aber nichts entdecken.
„Wo denn?“
„Ist doch jetzt egal. Komm!“
Beide überlegten fieberhaft, wie Ayla wieder auf die richtige Seite zu bringen sei. Einträchtig marschierten sie nebeneinander, doch der Zaun stellte eine unüberwindliche Hürde dar. Sie bemerkten den Museumswärter erst, als er vor ihnen stand. Er war wenig erfreut über den Anblick der beiden.
„Da habt ihr jetzt wohl ein Problem“, fuhr er sie wütend an.
„Ich schließe dir jetzt einen Ausgang auf, Fräulein, aber dann möchte ich doch gern deinen Lehrer sprechen.“

„Früher stand auf Fahnenflucht die Todesstrafe. Du hast Glück. Als Schülerin bekommst du nur einen Tadel.“
Herr Altmeier machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung.
„Warum hast du dich nicht an die Anweisungen gehalten? Warum hast du deine Gruppe verlassen? Wie hast du es überhaupt geschafft, über den Zaun zu klettern?“

Ayla fand, ihr Lehrer stellte wie immer zu viele Fragen auf einmal, und sie beschloss, das Gewitter stoisch über sich ergehen zu lassen, ohne es durch Antworten unnötig zu verlängern. Sicher, so ein Tadel brachte ihr wieder Ärger mit ihren Erziehungsberechtigten ein und vielleicht hatte sie am Wochenende deswegen Hausarrest, was besonders unangenehm war, weil Kevin eine Fete machen wollte.

„Vermisst du dein Handy, Ayla? Mal ganz abgesehen davon, dass du keins mitnehmen durftest.“
Ayla schaute ihren Lehrer misstrauisch an, doch da erkannte sie ihr Eigentum, das silbern in seinen Händen aufblitzte.
„Wieso haben Sie mein Smartphone?“
„Sieh an! Das interessiert dich jetzt doch. Ein junger Mann hat es mir abgegeben.“
„Der Gorilla!“, entfuhr es Ayla und ihre Augen weiteten sich vor Schrecken in Erinnerung an das Erlebte.
„Wir sind hier nicht im Zoo“, sagte Herr Altmeier ärgerlich, „auch wenn sich manche wie die Affen benehmen.“
„Krieg ich jetzt mein Handy?“, bat Ayla kleinlaut.
„Hier! Und stecke es weg! Vom nächsten Unterrichtsgang bist du ausgeschlossen. Hast du mich verstanden?“

Ayla setzte sich im Bus weit weg von ihrem Lehrer. Sie hatte die Nase voll von diesen autoritären Spaßbremsen und sah aus dem Fenster. Ein Schleier legte sich über ihre Augen. Auch auf ein Gespräch mit Vanessa, ihrer Freundin, hatte sie momentan keine Lust.
„Kann ich mal dein Handy?“, flüsterte Vanessa ihr zu.
Ayla deutete auf ihren Rucksack und schaute weiterhin gelangweilt auf die vorbeiziehenden, grauen Autobahnstraßen.
Nach einer Weile stieß Vanessa sie aufgeregt in die Rippen.
„Ist das der Steinzeittyp? Wie hast du denn diese tolle Nahaufnahme hingekriegt?“
Ohne Zweifel. Es waren die gleichen Augen, die sie noch vor wenigen Stunden angestiert hatten. Sie erkannte die wulstigen Lippen, die fliehende Stirn, die zotteligen langen Haare. Eingefroren auf dem Bildschirm verlor der Typ seinen Schrecken. Sie hatte keine Ahnung, wie das Bild entstanden war, ob der Typ zufällig ein Selfie gemacht hatte oder doch nicht so ahnungslos und dumm war, wie Herr Altmeier ihn hinstellte. Das war im Augenblick auch völlig egal. Sie hatte ihr Bild für Facebook und jede Menge Bewunderung waren ihr sicher.
Ayla taute auf aus ihrer Schweigsamkeit und Niedergeschlagenheit.
„Habe ich dir schon erzählt....“
Sie nannte ihn jetzt liebevoll Olaf, denn der Name klang für sie so herrlich altmodisch und passte in ihren Augen perfekt zu einem Steinzeitmenschen. Es wurde eine phantastische Liebesgeschichte daraus, die mit jeder Erzählung neue Details erhielt und immer wieder neue Zuhörer fand.

Letzte Aktualisierung: 09.04.2014 - 22.42 Uhr
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