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Steinzeit | April 2014

Braeriach
von Dunja Tietge

Steine, nichts als Steine. Seit zwei Stunden kein anderes Bild vor Augen. Der Nebel zwang den Blick auf den Bereich unmittelbar vor den Wanderstiefeln. Ein unbedachter Schritt, und der Fuß blieb in einer Spalte stecken. Nach dem Schotterfeld, das Janine und Laurel noch schwatzend hinter sich gebracht hatten, ließ dieser Abschnitt aus riesigen Felsblöcken sie verstummen. Die Quader hoben die Kontur des Berges auf. Nach einer Stunde konnte keiner mehr sagen, ob sie aufstiegen oder dem Verlauf der Schulter folgten. Durch das eisenhaltige Gestein versagte der Kompass. Laurel war schon zwei Mal gestürzt, weil er mit großen Sprüngen die Spalten überqueren wollte. Jetzt verzog er bei jedem Schritt das Gesicht. Janine, die ihn sonst gerne bemutterte, konzentrierte sich auf ihre eigenen Füße. Seit einigen Minuten fluchte er wenigstens nicht mehr.
Auf flache Quader folgten spitz aufragende Platten, um die sie sich umständlich herumhangelten. Die Rucksäcke blieben an engen Stellen stecken. Janine hatte ihren Trinkbecher verloren, als sie durch einen kaminartigen Aufstieg kletterten.
»Mann, ist das ätzend! Bestimmt habe ich mir die Knie ruiniert. Immerhin ist es windstill!«, bemerkte Laurel mit schiefem Grinsen.
»Das bedeutet, dass der Nebel sich nicht so schnell verzieht. Wir sollten uns eine ebene Stelle suchen und warten, bis er nachlässt. Wenn es in einer Stunde noch nicht besser ist, gehen wir zurück!«
»Hast du noch mehr so tolle Vorschläge? Wir werden uns den Arsch abfrieren! Ich bin doch nicht zum Rumsitzen hier hochgestiegen. Nee, nee, weiter geht´s! Es ist erst Mittag. Der Typ im Hostel sagte, dass der Pfad total einfach zu finden ist. Wir müssen höher. Auf dem Kamm gibt es einen Pfad. Wir sind nur viel zu weit nach links abgekommen!«
Seufzend blieb Janine stehen und bog das Kreuz durch. Sie war die Erfahrenere von ihnen und wusste, dass sie bei diesem Nebel eher Gefahr liefen, sich in einem der vielen Seitentäler zu verlaufen. Der Kamm wurde von kleinen Steinmännchen, sogenannten Cairns, markiert. Den einzigen Cairn passierten sie in der Nähe des Carn Toul - der letzte Gipfel, auf den sie das GPS geführt hatte. Danach streikte die Batterie. Laurel hielt es als Kind des einundzwanzigsten Jahrhunderts schlicht für überflüssig, eine Karte mitzuschleppen. Er hatte sie ausgelacht, als sie die Karte einstecken wollte. "Hast du nicht den Wetterbericht gehört? Traumwetter! Wir sehen doch, wohin wir gehen!"
Sein Smartphone bekam in diesem Nebel erst gar kein Signal. Die coolen Wanderer im Hostel priesen den Braeriach als lang, aber nicht besonders schwierig an. Der Teil mit dem »nicht schwierig«, wurmte Laurel etwas. Laurel, der immerhin schon auf den Ben Nevis, dem höchsten Berg Großbritanniens gewandert war, hielt sich seitdem für einen mindestens halbwegs erfahrenen Outdoor-Experten. Janine unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass der höchste Berg nicht unbedingt auch der schwerste sein muss. Für Laurel zählte die Herausforderung. Als Janine ihm erzählte, dass in den Cairngorms die nächst höheren Berge McDhui und Braeriach lagen, gab es für Laurel kein Halten mehr. Er lief Marathon und kletterte bis zum 6. Grad an der Wand. Etwas anderes, als die höchsten "Hügel", wie er die schottischen Berge nannte, kam für ihn nicht in Frage.
Die Wanderstöcke hatten sie längst an den Rucksäcken verstaut, um die Hände zum Klettern und Abstützen frei zu behalten. Nach einer kleinen Pause, in der sich sämtliche überlasteten Muskeln schmerzhaft bemerkbar machten, kraxelte Janine über eine Rinne, die zu einem dunklen Schemen im Nebel führte.
»Der Klotz da vorne!«, rief sie Laurel zu. »Siehst du ihn?Immer einen Punkt anvisieren und von da aus weiter orientieren!«
»Ja, ja, Frau Bergführerin!«, kam es dumpf aus dem Nebel zurück. Drei Schritte weiter sah Janine nichts mehr von ihrem Freund.
»Laurel!«, schrie sie ins weiße Nichts. Keine Antwort.
Erschöpft hielt sie inne, stützte sich auf ihrem Oberschenkel ab. Sie musterte die rostbraunen, schwarzen und goldgelben Flechten, die sich ihre eigene kleine Welt auf die Felsen malten. Janine liebte die schottischen Berge, ganz besonders die Cairngorms. Aber an Tagen wie diesen spürte sie mehr denn je, dass Menschen nicht in diese Welt gehörten. Flechten, Schneehühner und Raben, ja. Menschen, nein.
Flügel müsste man haben, dachte sie.
Sie wäre heute lieber um den Loch Morlich gewandert und hätte das für morgen vorhergesagte bessere Wetter für den Braeriach genutzt. In Aviemore schien heute Morgen die Sonne, doch die Cairngorms hüllten sich in Wolken. Laurel zuliebe hatte sie nachgegeben. Er war das erste Mal in Schottland und wollte jede Minute nutzen. Sie war froh, dass er überhaupt mit ihr nach Schottland gekommen war. Laurel wäre lieber zum Skifahren in die Alpen gefahren. So, wie die letzten vier Urlaube, die sie mit ihm verbracht hatte.
»Laurel!«, schrie sie noch einmal. Durch die schalldichte Watte drang kein Laut an ihr Ohr. Nur Nebel und Steine. Felsen und Watte. Kein Himmel, keine Sonne, kein Cairn, kein Laurel.
Die Stille dröhnte in ihrem Kopf. Der Nebel drang ihr durch die Ohren, die Augen, den Mund. Sie wollte noch einmal seinen Namen schreien, doch Angst steckte als Kloß in ihrem Hals.
»Laurel«, flüsterte sie.
Sie versuchte, die Stelle wieder zu finden, wo sie ihn zuletzt sah. Das war ebenso hoffnungslos, wie den Klotz im Nebel auszumachen, den sie anpeilen wollte.
Eine Stimme in ihr flüsterte: bleibe einfach sitzen. Du hast Verpflegung und einen Rest Wasser dabei. Zieh deinen Pulli über und wickle dich in deinen Schlafsack. Der Nebel wird irgendwann verschwinden und dann suchst du Laurel. Er wird in der Zwischenzeit sicher auch nach dir forschen.
Für einen Moment schien es Janine, als ob der Himmel heller würde. Ein Aufleuchten hinter den Wolken. Neue Kraft strömte durch ihre Glieder. Sie zog den Rucksack fester auf ihre Hüftknochen und starrte in die undurchsichtige Suppe. Sah sie dort einen Schatten? Bewegte sich da nicht ein Mensch?
»Laurel!«, flüsterte sie, und lauter: »Ich bin hier! Laurel! Hierher!«
Der Schatten kam näher. Janine verharrte auf ihrem Felsen, der ihr Halt gab. Jetzt nur nicht aneinander vorbeilaufen.
Die Umrisse des Schemens sahen nicht nach Mensch aus, stellte Janine fest. Der Gedanke beunruhigte sie. Was gab es denn hier auf dem Berg Größeres als einen Menschen?
Ganz gegen ihre Instinkte begann Janine, dem Schatten entgegen zu klettern. Die Müdigkeit wich aus ihrem Körper. Ihr Blut pulste frisch durch die Adern. Ihr Hirn klärte sich von allen Sorgen. Laurel ging es sicher gut. Wenn sie dem Schatten folgte, würde sie den Kamm und die Cairns finden. Erfrischt von diesem Gedanken sprang sie von Fels zu Fels. Den Rucksack spürte sie kaum.
Sie fühlte sich eins mit dem Berg. Die Steinwüste, die sie eben noch als feindlich erlebt hatte, empfing sie nun wie einen lang vermissten Freund. Janine breitete die Arme aus. »Warte!«, rief sie dem Schatten zu. Tatsächlich schien er sie zu hören. Er verharrte vor ihr. Janine spürte seine erhabene Freundlichkeit. Bei ihm würde sie geborgen sein. Er sprach nicht. Er war nur. Janine nickte lächelnd.
Wenig später erreichte sie den Gipfel des Braeriach. Ein Steinhaufen neben einem Schutzwall aus Steinen markierte den höchsten Punkt. Errichtet von tausenden von Wanderern. Der Nebel sackte ab. Die Hochebene der Cairngorms ragte aus dem schier unendlichen Wolkenmeer. In den Tälern brandeten Wolken schäumend an die Steilkanten. Über den Gipfeln spannte sich ein strahlend blauer Himmel. Janines Schatten ruhte auf den Wolken zu ihren Füßen. Um den Schattenkopf rankte sich eine goldene Korona aus Licht. Brocken Spectre, erinnerte sie sich an das Phänomen.
Lange Zeit stand sie da und trank das Gefühl des Triumphs. Ergriffen lauschte sie dem Geist des Berges, der auf diese Weise ihre Demut belohnte. Sie wünschte sich, andere Menschen könnten spüren, was sie jetzt spürte. Sie wünschte, Laurel wäre hier, um diese Erfahrung mit ihr zu teilen. Sie war eins mit Stein, Flechten und Berg. Dieses Gefühl durchdrang ihre Haut, ihr Fleisch, ihre Seele. Janine bedauerte alle Menschen, die das nicht fühlen konnten. Sehnsüchtig betrachtete sie die anderen Gipfel. Cairngorm, Devils Peak, Carn Toul, Ben MacDhui und ihre Geschwister aus Urzeiten. Die Sonne sank hinter den Horizont. »Danke!«, flüsterte Janine. Tränen liefen ihr über die Wange.
Es wurde Zeit, umzukehren. Janine warf dem Rucksack neben dem Gipfelcairn einen bedauernden Blick zu.
Dann breitete sie die Flügel aus und flog davon.

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Letzte Aktualisierung: 12.04.2014 - 11.45 Uhr
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