Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Verdammt und zugenäht | Mai 2014
Ende der Vorstellung
von Hajo Nitschke

„Wen wird er diesmal abwatschen?“, fragte ich Beate. Meine Frau tippte auf einen Politiker. Wir saßen in der dritten Reihe und warteten gespannt auf die beiden Akteure. Zuletzt war Gregor als
Amtmann aufgetreten, der den Untergebenen mit deftigen Worten zum Kuckuck wünschte. Davor ein Hooligan, der den gegnerischen Fußball-Fan mit dem Wortschatz eines Bierkutschers beschimpfte. Immer endete es damit, dass Gregor für jeden Fluch das Sparschwein füttern musste, welches am Schluss der Vorstellung von einem auszulosenden Kind geplündert wurde – sofern sich Kinder unter den Zuschauern befanden. Wie in dieser ausverkauften Nachmittagsvorstellung.

Das war Gregor. Und Alex? Egal, ob kleiner Inspektor, Freund des runden Leders oder was auch immer: Alex war als Gregors Counterpart in erster Linie Alex. Der, dem die Herzen zuflogen, obwohl der kleine Mann ganz schön fies sein konnte.

Voller Vorfreude genossen wir die Theateratmosphäre. Atmeten den Geruch der Polster und tauchten ein in das Raunen im Saal unter dem Glitzern der silbernen Kronleuchter. Fühlten uns geborgen zwischen Samtvorhängen und tiefroten, lichtbanddurchzogenen Wänden. Dann wurde es dunkel, der Vorhang ging auf. Im Scheinwerferlicht zwei Stühle, davor ein Tischchen mit dem Flüche-Sparschwein, einer Flasche Wasser und zwei Gläsern. Die beiden Mimen traten auf die Bühne.

Der stattliche Gregor, graumeliert, in wallendem Umhang nebst weißem
Schal. An seiner Hand der beträchtlich kleinere Alex, der sich gleich auf seinen Stuhl fallen ließ. Gregor nahm neben dem Kleinen Platz, dessen Erscheinung uns wieder schmunzeln ließ. Mit der riesigen Knollennase, den Segelohren und dem oft rüsselförmig gespitzten grellroten Kussmund brachte er den Saal zum Kichern, wie er so dasaß und gelangweilt in die Luft stierte. Gregor schaute ihn peinlich berührt von der Seite an. Im Saal trat Stille ein.

Der Gnom erwiderte den Blick seines Nebenmannes:
„Genug geglotzt, Gregor?“ Gluckser im Publikum. Mit hoher, quäkiger Stimme fuhr Alex in seiner schleppenden Sprechweise fort:
„Naaa? Hat's dir die Stimme erschlagen, Alter?“
„Es heißt 'verschlagen', Alex.“ Gregors Bass klang leicht gereizt.
„Erschlagen, sag ich doch, Großer.“
„Sagst du nicht, Wurm. Schau dich an: Figur eines Zirkusclowns, Benehmen eines Kretins und auch noch ein Sprachfehler!“
„Hat dieser Riesenschrat Recht, Kinder?“, quengelte Alex ins Parkett, beantwortet von Gelächter und hellen Nein-Rufen.
„Da hörst du es, Gregor, und jetzt entschuldige dich bei mir!“

Das tat jener allerdings nicht, und so ging der Streit noch eine Weile hin und her. Bis Gregor einwarf:
„Sag mal, Alex, was hältst du von den Frauen?“
Nachdenklich schaute Alex den Frager an, eine kleine Ewigkeit lang.
„Meinst du das allgemein oder eine Besondere?“
„Eine ganz Besondere, Alex: Meine Alte! Hat mich sitzengelassen, diese ...“
„Diese …?“
„diese untreue Person! Geht jetzt mit 'nem Anderen!“
„Aha“, raunte mir Beate zu. Ohne weitere Worte waren wir uns einig. Gregor gab heute einen gehörnten Ehemann. Wir warteten neugierig, wie es sich entwickeln würde. Der Kleine diesmal als Kummerkasten? Oder etwa als derjenige-welcher? Vorsichtige Seitenblicke zeigten mir, dass – soweit Kinder zuschauten – die Eltern entspannt auf einen jugendfreien Dialog vertrauten. Gregors Flüche würden wie immer schadlos an der jungen Brut vorüberziehen, das Vokabular war nachmittags noch stets im grünen Bereich geblieben. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

„Verflixt und zugenäht, dieses Weib! Kruzitürken auch!“, hielt Gregor seine Anklage aufrecht.
Ein kleiner Wink seines Bühnenkollegen, und schon klimperte es im Sparschwein.
„Noch einen, Gregor! 'Kruzitürken' zählt auch.“ Gregor machte Anstalten, eine Münze aus der Tasche zu ziehen, als er mitten in der Bewegung erstarrte.
„Greeegooor? Ist dir nicht gut?“, fragte Alex wimpernklimpernd. Gregor blieb starr und stumm.
„Du armer, armer Gregor! Hallooo? Ist ein Arzt im Saal?“ Kein Arzt, dafür Gejohle aus den Sitzreihen. Bei Gregor keine Reaktion. Er blieb eine lebende Statue, wie in tiefe Trance versunken.
Gut gespielt! Sah echt aus. Als ob ihm unvorhergesehen etwas in den Sinn gekommen wäre.

„Erde an Gregor: Rücksturz nach Terra! Huuuhuuu!“ Alex fuchtelte vor Gregors Gesicht herum und warf ihm ein angedeutetes Küsschen zu. Vergebens.
„Die haben Nerven“, flüsterte es hinter uns. In der Tat: diesen scheinbaren Zwischenfall so glaubhaft zu meistern, machte neugierig auf die Auflösung. Aber immer noch hockte Gregor still auf seinem Stuhl, immer noch wedelte Alex mit der Hand. Dann hatte er Erfolg: langsam kam Gregor zu sich beziehungsweise tat so.

„Himmelherrgottsakrament, dieses Miststück!“, rief der Wachgewordene, ließ aber die Münze in der Tasche.
„Du meinst wirklich Eronika?“, vergewisserte sich der Zwerg – wie mir schien, mit einem lauernden Unterton.
„Ve-ro-ni-ka, du Arschgesicht! Veronika, diese Krähe, diese widerliche Schnepfe!! Ganz recht: die! Ein verdammte Aas!“, brüllte Gregor, ohne das Sparschwein zu beachten. Alex wies mit schwacher Gebärde auf das Plastiktier, um es offenbar im nächsten Moment ebenfalls zu vergessen. Atemlose Stille im Saal, es knisterte vor Spannung: eine unerwartete Wendung, und so überzeugend spontan vorgetäuscht. Das war der Augenblick, da Beate mich zum ersten Mal etwas unsicher anschaute. „Alles Show“, flüsterte ich und winkte vergnügt ab – nur, um bald beunruhigt zusammenzufahren.

Zunächst fiel Gregor erneut in seine Denkmals-Haltung.
„Erdammt, lass das sein!“, fuhr ihn Alex an, allem Anschein nach nervös geworden. Niemand lachte. Die Situation war irgendwie – peinlich. Alles wartete darauf, dass und wie die beiden die Kurve zurück ins heitere Fach kriegten. Offenbar dem Konzept folgend redete Alex den Erstarrten an:
„Eroninka … Ve-ro-ni-ka ist keine Schnepfe, Gregor! Und kein Aas!“ Doch Gregor, jäh wieder zu sich gekommen, knallte die Faust auf den Tisch: „Ist sie doch! Was weißt du schon?! Eine geile Stute, die mit jedem rumvögelt, jawohl!“

An dieser Stelle wurde es unruhig unter den Zuschauern. In der ersten Reihe machte eine Frau Anstalten, mit ihrer kleinen Tochter die Vorstellung zu verlassen. Andere warfen sich teils fragende, teils verlegene Blicke zu. Ich fragte mich, ob das Stück aus den Fugen geriet, ob etwas passierte, was nicht eingeplant war. Aber sicher war ich mir nicht. Auch nicht, als mir Beate ein „Lass uns gehen, Jens!“ zuraunte. Ich gebe den folgenden Ablauf – wie schon das Vorherige – aus der Erinnerung wieder, wie er sich in etwa abspielte:

„Hat sie dich erlassen … verlassen, du arner … armer Gregor? Das hast du erdient … verdient!“
„Aber ich habe sie geliebt, Alex!“
„Nichts hast du! Du hast nur ihr Geld gelieht … geliebt.“
„Pah! Kohle hab ich selber. Auf Händen hätte ich diese Frau getragen!“
„Hast du ader … aber nicht. Du wolltest über sie destinnen … bestimmen. Und über ihr Geld.“
„Scheißzwerg, verpiss dich!“
„Nacho … Macho!“

Über Alex' plötzliches Gestammel irritiert, wollte ich gerade Beate fragen, ob das neu sei, als der Streit auf der Bühne eskalierte:
„Vorsicht, Alex, oder du kriegst eins auf die Fresse!“
„Oder du! Auf Veronika lass ich nichts kommen, merk dir das, Mann!“
„Hau ab, ich kann deine Stimme nicht mehr ertragen“, skandierte Gregor wutentbrannt und äffte übertrieben quietschend „Merk dir das, Mann!“ nach.
„Und ich kann deine Visage nicht mehr sehen, Affenarsch!“, schrie Alex zurück,

Viele im Publikum waren aufgesprungen, die Ersten verließen den Saal, empört über einen noch nie dagewesenen ordinären Dialog.
„Das geht zu weit, komm, wir verschwinden auch“, stimmte ich – verspätet – Beate zu. Die beiden erhitzten Kontrahenten schrien sich so laut und schrill an, dass die Stimmen kaum noch zu unterscheiden waren. Alex hatte den vorübergehenden Sprachfehler schnell wieder über Bord geworfen:

„Geschlagen hast du sie, du Lump!“
„Nie!“
„Ich hab's selber gesehen!“
„Und wenn! Verdient hat sie's. So eine Sau! Weg mit ihr! Soll bumsen, wen sie will!“
Das war für Veronikas kleinen Verteidiger zu viel.
„Du wagst es, Veronika zu beschmutzen? Warte, ich werd's dir zeigen!“, und mit diesen Worten
gab er dem Schimpfenden eine schallende Ohrfeige. Den letzten Zweiflern im Saal dämmerte es: das war nicht gespielt. Ein Bühnenarbeiter und der Saaldiener hasteten aus dem Foyer nach vorne. Der Vorhang begann sich zu senken, verharrte aber auf halber Strecke. Genau so, wie Beate und ich.

*

Jetzt, da wir die neuesten Pressemeldungen über den Vorfall studieren, packt uns noch immer das Entsetzen, lässt uns erneut Vermutungen über die Hintergründe anstellen. Im Lokalteil lesen wir nach, was wir selber wissen:

Gregor brüllte zurück: „Das wagst du, du kleines Stück Scheiße?!“ Er griff nach dem Sparschwein und knallte es Alex an den Kopf. Dieser rieb sich kurz den Schädel, stürzte sich auf den Goliath und fuhr ihm mit einem Würgegriff an die Gurgel.
„Ich mach dich kalt!“, schrie Gregor, der sich losriss, aufsprang und Alex mit sich zog, um ihn zu Boden zu schleudern. Doch Alex gelang es im letzten Moment, die Flasche zu packen und sie mit überraschender Wucht auf dem Tisch zu zertrümmern
„Nach dir!“, zischte der Kleine, dann rammte er eine gezackte Flaschenscherbe in Gregors Hals. Der brach zusammen. Als man Alex von ihm herunterreißen konnte, schwamm Gregor in seinem eigenen Blut ...


Ein Foto zeigt den Schwerverletzten am Boden liegend, daneben – ohne Regung, in sich zusammengesunken – Alex, den man auf seinen Stuhl zurückbugsiert hatte. Der Artikel schließt mit einer kurzen Bemerkung, dass Veronika Gregorius im Interview zwar die Trennung von ihrem Mann bestätigt habe, aber jeden Seitensprung energisch dementierte. Es folgt noch ein Resümee des Redakteurs:

Ob Artur Gregorius überleben wird, ist ungewiss. Sein Tod wäre für die Zunft der bauchredenden Künstler und ihre vielen Freunde ein herber Verlust,



@ Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 15.05.2014 - 09.05 Uhr
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