Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Verdammt und zugenäht | Mai 2014
Petersilie, Suppenkraut
von Glädja Skriva

Mit großzügigen Stichen nähte Pünktchen den groben Jutesack zusammen. „Fertig“, strahlte sie und zupfte zufrieden an ihrem Blümchenkleid. „Und schon sieht die Welt viel bunter aus.“ Grace, ihre Freundin, war geduldig neben ihr geblieben. Bis zum letzten Stich. Sie staunte: „So einfach ist das?“, während sie leise nachsetzte: „ ... warum hat mir das niemand gesagt?“

Grace. Der Name passte eigentlich nicht zu ihr. Oder passte eigentlich doch zu ihr. Eigentlich und irgendwann. Grace. Die Dankbare. Die immer dankbar war. Dankbar für die Düsternis des Innenhofes, auf den Sam und ihre Wohnung blickte. Eingemauert von schmutziggrauen Backsteinen, rußig und abgeblättert, wie ein Make-up, das sich über die Altershaut spannte und so noch deutlicher die Lebensspuren zeichnete. Sie war sogar dankbar für den Müll: Für Werbung, Bierdosen und aufgeplatzte Plastiktüten, aus denen sich vergammelte Lebensmittelreste schälten und die hin und wieder der Wind aufblähte, wenn er kalt und scharf in den Hinterhof pustete und versuchte, dort ein wenig aufzuräumen. Bis er weiterzog und noch mehr Chaos hinterließ: Abgerissene Äste, die sich über die verwilderten Gärten im Hof verteilten. Brachland, das niemand mehr interessierte.

Aber Grace hatte es genauso gewollt und keine Sekunde anders, als sie mit Sam vor drei Jahren dorthin gezogen war. In dieses Dreckloch, das sonst niemand wollte; links und rechts mit ein paar Nachbarn, die wie Treibgut an Land gespült worden waren. Die Fenster ihrer Wohnungen, blind und verschmutzt, zum Hof hin stets geschlossen, dass man sie nicht sehen konnte oder sie nicht mitansehen mussten, dass ... Wer wusste es schon?

Aber Grace wusste es, dass man aus allem, auch aus Drecklöchern, etwas machen konnte. Wenn man nur nicht aufgab. Und so sah sie es bereits vor sich, wie eines Tages im Innenhof die Sonnenblumen ihr Gesicht wiegten; Tomaten und Knoblauch nach Pizza rochen und nach Gesellschaft, die munter bis in die Nacht auf knarzenden Bierbänken quatschte, während die Grillen zirpten und Babys mit dickem Windelpopo und Däumchen im Mund sich zufrieden in der Schaukel, die über die Teppichstange geworfen war, in den Schlaf wiegen ließen. Sowie sich ein leuchtend orangeroter Sonnenuntergang in den Fenstern der Nachbarn spiegelte, wovon einige weit geöffnet waren, so, dass die laue Luft sich zu ihnen hineinwälzen konnte und sie wärmte, ohne sie zu verbrennen, während leise Radiomusik klimperte und in den Innenhof flüsterte:

“Der Mensch ist Mensch, weil er lacht und weil er lebt ... Und es ist. Es ist o.k. Es ist Sonnenzeit. Alles auf dem Weg ist ungetrübt und leicht. Weil er wärmt, wenn er erzählt ...“

„Der Mensch heißt Meeensch ...“, vibrierte es in Grace Ohren, “weil er irrt und weil er kämpft. Es ist schon o.k. ...“

Sie zuckte zusammen. „Brummer“, griente Sam vom Balkon herunter. „Dein Traumprinz ist zuhause.“ Wie immer sauste Grace die Stufen hoch, zwei auf einmal. Kleid und Pferdeschwanz wippten um die Wette. „Oh, Schatz.“ Er nahm sie hoch, ihre Beine schlangen sich um seine Hüfte, bis sie ihn spürte und sein Mund sie suchte. Seine Hände wanderten über ihren Kopf, den Rücken entlang zu ihrem Po – um sie zu halten.

Alles würde gut werden. Sie war sich gewiss. Sofort am nächsten Tag fuhr sie zu dem kleinen Malergeschäft am Ort, viele bunte Farbtöpfe kaufen. Blau mussten sie sein. Blau, wie der Himmel und rot, wie ihre Liebe. Dazu lichtgelb und grün. Grün, wie die Hoffnung. Sie würde damit das Grau der Backsteine überpinseln, die ihren Balkon einzementierten, und in dessen Mitte würde sie ein großes Tor malen für Sam und seine Kumpels, die davor bei einem kalten Bier abhängen würden.

Drei Wochen später ging Sam seinen Ball lieber in ein echtes Tor versenken. Es lag nur an der Farbe. Davon war sie überzeugt. Nur an der Farbe und an deren schlechter Qualität. Aber den Innenhof, den würde sie zum Blühen bringen und dann käme Sam zu ihr zurück. Sie würden die Grillkanone anfeuern und Leben käme wieder in die Bude und der Geruch nach verbrannten Kartoffeln und Bratfett, das in die Flammen spritzte, würde hochsteigen. Sorgsam begann sie den Schutt aus den vereinsamten Gartenparzellen abzutragen. Eimer für Eimer. Nur den Innenhof zum Blühen bringen. Sie schüttete große Säcke mit nahrhafter Muttererde aus und zog Rille für Rille. Dann käme Sam zurück. Sie legte ein Samenkorn neben das andere. Ja nicht zu tief. Er musste nur sehen, dass es hier wieder gut wurde. Sie schleppte schwere Gießkannen aus ihrer Wohnung. Zehn, zwanzig und träufelte die ersten Köpfchen, die sich zaghaft durchkämpften.

Sie hatte zu früh begonnen, war zu ungeduldig gewesen. Der letzte Frost, der noch nachgesetzt hatte, ließ sie erfrieren. Braun und kraftlos lagen sie am Boden. Nicht überlebt und nicht mehr zum Leben zu erwecken. Sie würde warten auf mildere Nächte. Aber mit den milden Nächten kamen die ersten Träume, wenn es still war und ihre Hände nichts zu tun hatten, ihre Beine nicht weglaufen konnten und sie lag – wie damals. Die Stimmen kamen wieder – und die Erinnerung. Sie presste beide Hände auf ihre Ohren und hörte immer noch. Das Wimmern. Als Kind. Dann das rhythmische Stöhnen des Mannes, bevor es überging in Keuchen, Keuchen, Keuchen, bevor er kam. Grace presste ihren schweißnassen Körper an Sam. Kurz. Ihn nur nicht wecken. Nichts erzählen. Er würde nicht verstehen ... Sie musste es alleine schaffen. Sie musste nur die Hoffnung nähren und durfte sie nicht lassen.

Sofort am nächsten Tag sammelte sie den Müll ein, den einer der Nachbarn aus dem dritten Stock in den Innenhof gekippt hatte. Dann drückte sie sacht neue Samenkörner in die Erde, schleppte Gießkanne um Gießkanne und schmirgelte die Kinderschaukel ab, bis ihre Hände bluteten. Kein Rest von Altem durfte mehr sein. Keiner. Sonst hielt das Neue nicht. Himmelblau würde sie die Schaukel streichen. Mit weißen Margariten darauf. Weiß. Weiß, wie die Unschuld. Da weinte sie – und meinte, es seien Freudentränen.

„Was meinst du dazu?“, fragte Grace Pünktchen wenige Wochen später und deutete auf die Schaukel. Sie hatten sich eine Verschnaufpause gegönnt und standen auf dem Balkon, auf dem sie sich eine kleine, gemütliche Ecke zwischen den Umzugskisten geschaffen hatten: Zwei Tassen Hanftee, Torf, eine dicke Nadel und kräftige Jute. Pünktchen war ein „Guerilla“ oder „Guerilline“ geworden und drückte Grace zwei Bomben in die Hand. „Das müssen wir feiern! Und jetzt donnere! Nach unten. Mit voller Kraft! In diesen verdammten Scheiß!“ Grace hielt den Atem an.

Nur wenige Tage später war um die Schaukel ein blau-rot leuchtender Teppich gewebt, der sich wiegend in Leichtigkeit von der grauen Steinwüste absetzte. „Sag ich doch. Guerilla gardening!“, trällerte Pünktchen. „Große Klasse! Ein bisschen Erde, ein bisschen Torf, Schafsmist, zusammengematscht mit Samen, gerollt und eingenäht. Dann wahllos in eine dunkle Ecke gepfeffert – und schon funzt es. Nicht kleinzukriegen. Damit blüht alles.“ Sie drückte Grace an sich.
„So einfach kann das sein?“, staunte Grace. 326 Gießkannen später. „Und“, fragte Pünktchen, „können wir jetzt die Umzugskisten wieder auspacken und dafür noch ein paar Samenbomben nähen? Mit richtiger Klebpampe. Verdammt nochmal, aber auch!“

Da ging Grace zu einem der Kartons, öffnete den Deckel, dass das Geschirr darin nur so rappelte, und schüttelte den Kopf. „Ach ja, den Wälzer hier darf ich auf gar keinen Fall vergessen.“ Sie klappte ihn auf. In die Buchrille war gepresster Dill geschlüpft. Etwas schrumplig, etwas windschief, aber noch gut zu erkennen. Der Duft nach frischen Kräutern vermischte sich mit dem Staub der Seiten. „Habe ich da unten am Dienstag gepflückt.“ Grace deutete auf die Grenze zwischen Blumenteppich und Brachland. „Hebe ich auf. Der ist gewachsen.“

„Samenbomben sind viel geiler“, mümmelte Pünktchen vor sich hin. „Ja“, sagte Grace, „für einen Sommer. – Und ... das mit dir und Sam ... ist schon o.k.“

Dann ging sie. Eine Bombe kaufen und neues Brachland suchen.



© P.S./Glädja Skriva/Mai 2014/Endversion







Letzte Aktualisierung: 27.05.2014 - 08.47 Uhr
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